Als meine Kinder noch in der Grundschule waren, lebten wir an der Küste, etwas nördlich von Half Moon Bay. Wir hatten damals drei groβe Hunde. Das war gar nicht so einfach, diese drei auf Spaziergängen im Zaum zu halten, doch glücklicherweise gab es genügend Freiflächen – den Strand, aber auch Freiflächen im Inland – wo wir die Hunde einfach laufen lassen konnten.

Nun gab es in diesen Gebieten auch wilde Tiere – wie Koyoten oder Pumas – aber die wurden recht selten gesichtet. Ich machte mir auch weiter keine Gedanken darüber, denn schliesslich hatte ich da mein Pack, das mich verteidigen würde. Das musste schon ein sehr mutiges wildes Tier sein, das es wagen würde, uns anzugreifen.

Aber wir waren mit einer alleinerziehenden Mutter und deren Sohn befreundet, die nur einen Hund hatten, und das war einer dieser kleinen und niedlichen Hunde – ich erinnere mich noch an seinen Namen, Spencer – und auch dieser Hund wurde dort ausgeführt, wo wir auch unsere Hunde laufen liessen.

Eines Tages hörten wir, dass am Vortag ein Puma gesichtet worden war. Als ich Mutter und Sohn beim Hundespaziergang trag, unterhielten wir uns darüber. Die Mutter war schon etwas nervös, doch wollte sie ihre Spaziergänge in der Wildnis mit ihrem Sohn und Spencer nicht aufgeben. Aber sie hatte mit ihrem 7jährigen Sohn darüber gesprochen, wie er sich zu verhalten hätte, wenn ihnen beim Spazierengehen mit dem Hund ein Puma über den Weg laufen sollte. Ihre Instruktion an ihren Sohn: schnapp dir Spencer, wirf ihn vor den Puma, und renn weg so schnell du kannst!

Mit anderen Worten, die Mutter hätte eher das vielgeliebte Tier geopfert, als ihren Sohn zu gefährden – oder selbst angegriffen zu werden. Und so grausam das auch vielleicht klingen mag, so macht es doch Sinn – ein Tier kann ersetzt werden. Ein Mensch nicht.

Nun gibt es natürlich jene Menschen, die ihre vierbeinigen Gefährten so sehr lieben, dass sie ihr Leben für sie riskieren – und ihr Leben auch dabei verlieren. Es ist gar nicht so selten, dass wir in den Nachrichten hören, dass jemand in das Meer springt, um seine Hund zu retten, der von den Wellen weggerissen wird; oder dass jemand hinterherspringt, wenn sein Hund einen Abhang hinunterrutscht. Und häufig führt das dann zum Tod von Hund und Herrchen oder Frauchen.

Soweit wir wissen, hatten die Menschen zu Jesu Zeiten in der Regel keine Haustiere. Ja, die Superreichen konnten es sich erlauben, ein exotisches Tier wie ein Äffchen oder einen Vogel zu halten, vielleicht gar einen Leoparden, aber das war doch die Ausnahme. Normalbürger, soweit sie es sich erlauben konnten, hielten sich Tiere, die einen besonderen Zweck hatten: entweder als Produzenten für Milch, Fleisch, Eier, Wolle oder Felle, oder als Arbeitstiere, die Haus und Hof bewachen, lästige Nagetiere fangen, Lasten schleppen oder den Pflug ziehen. Zu diesen Nutztieren hatten ihre Besitzer keine sentimentalen Beziehungen.

Wenn wir nun die Lesungen zum heutigen Tag hören – den beliebten 23. Psalm oder auch die Evangeliumslesung aus dem Johannesevangelium – könnten wir vielleicht denken, dass zu biblischen Zeiten zumindest Hirten eine wunderbare Beziehung zu ihren Schafen hatten. Der 23. Psalm spricht schlieβlich davon, dass der gute Hirte seine Herde mit Stecken und Stab gegen alles Übel verteidigt, und im Evangelium des Johannes hören wir gar, dass der gute Hirte sein Leben für die Herde läβt – so, als ob diese biblischen Worte irgendwie aus der alltäglichen Erfahrung schöpfen.

Aber die Realität sah anders aus. Selbst ein guter Hirte, dem die Herde am Herzen lag, selbst der Besitzer einer Herde würde natürlich sein Leben nicht aufs Spiel setzen, wenn seine Herde von einem Raubtier angegriffen würde. Ein Hirte würde versuchen, ein Raubtier mit Stecken und Stab zu vertreiben, oder aus sicherer Distanz Steine werfen oder auch eine Steinschleuder benutzen – David, der später der König von Israel wurde, haute Goliath mit einer Steinschleuder um und hatte diese Fähigkeit als Hirtenjunge perfektionieren können – doch wäre es einfach schwachsinnig für den Hirten gewesen, sich zwischen Raubtier und Beutetiere zu stellen. Denken Sie einmal darüber nach: sollte der Hirte verletzt oder gar getötet werden, dann ist die gesamte Herde ohne Schutz und in Gefahr. Schafe sind die einzigen domestizierten Tiere, die ihre natürlichen Instinkte verloren haben – Schafe wären allein in der Wildnis also wirklich verloren.

Die, die seinerzeit Jesu Worten über den Hirten, der sein Leben für die Schafe gibt, zuhörten, waren wahrscheinlich recht verdutzt, wenn nicht sogar geschockt. Welcher vernünftige Hirte würde sein Leben aufs Spiel setzen? Das macht einfach keinen Sinn: dass jemand sein Leben für das Leben eines Schafes opfert und somit die gesamte Herde der Gefahr preisgibt. Aber dies ist, was Jesus immer wieder tut, in seinen Lehren und besonders in seinen Gleichnissen: die Zuhörenden zu überrraschen, sie zu überrumpeln, ihre Denkensweise in Frage zu stellen und ihre Weltansicht und ihre Erwartungen auf den Kopf zu stellen. Ihnen zu zeigen, dass es da eine Alternative zu dem Leben gibt, von dem sie denken, dass es eben so ist.

Und mit dem heutigen Evangelium ist es nicht anders. Was ist das nur für ein Hirte, der sein Leben läβt, der es opfert für die Schafe? Diese Hingabe ist radikal und extrem, sie übersteigt gar die Hingabe, die der Hirte im 23. Psalm erweist – der Hirte, der darauf achtet, dass es seiner geliebten Herde an nichts mangelt.

Jesus redet über eine radikale Hingabe und eine radikale Liebe, die Gott den Menschen erweist. Wir sind dazu berufen, Gott zu vertrauen und nachzufolgen, eben weil Gott so radikal ist und das Unvernünftige und Unerwartete tut – für uns. Gleichzeitig stellt Jesus aber auch implizit all jene Dinge in Frage, denen wir sonst so wir Schafe folgen – ob es nun Menschen, Ideologien oder die Abgötter, die Idole unsrer Zeit sind.

Egal, wieviele Versprechen uns Menschen in Führungspositionen – politisch, wirtschaftlich oder militärisch – machen – sie können uns nicht erretten. Wann immer wir es mit einem System zu tun haben, das von Menschen für Menschen geschaffen wurde, dann gibt es in diesem System auch immer irgendwie Fehler – denn schlieβlich ist kein Mensch perfekt. Und unser gröβter Fehler – unsere Erbsünde – ist, so wie Gott sein zu wollen – und unsere Bedürfnisse und unsere Verlangen vor alles andere zu stellen.

Wie oft haben wir es nicht im Laufe der Geschichte gesehen, das diejenigen in Führungspositionen die, die ihnen anvertraut waren, für ihre eigenen Interessen geopfert haben? Egal, wie gut die Intentionen der Menschen am Anfang auch sein mögen, schaffen es Hochmut und Sucht nach mehr – mehr Einfluss, mehr Macht, mehr Geld – in unsere noblen Ideen einzudringen und sie zu verfälschen. So wird jedes System einmal korrupt, selbst eine Demokratie – und selbst ein System wie die Kirche.

Doch mehr denn je werden wir dazu verführt, zu denken, dass es da irgendetwas gibt, das uns erlösen kann. Eine starke Wirtschaft z.b., Protektionismus, Mauern, persönlicher Reichtum – und Sie können hier wahrscheinlich noch an mehr Dinge denken. Und wir merken es oft noch nicht einmal, wie wir dahin manipuliert werden, Abgöttern, Idolen zu folgen, die uns zunächst einmal all das zu geben scheinen, was wir uns nur erwünschen – doch die uns als die Menschheit, uns als Teil der Schöpfung Gottes, am Ende ins Verderben führen werden. Sehen Sie sich nur einmal den Stand des Planeten an, auf dem wir wohnen – heute ist ja ‘Earth Day’, der ‘Tag der Erde’, und ja, da ist vieles im Argen mit dieser Welt allein von einem ökologischen Standpunkt aus gesehen – und darüber hinaus wissen wir auch, dass viel im Argen von einem moralischen und ethischen Gesichtspunkt aus ist.

Wir folgen Abgöttern nach, anstelle Christus nachzufolgen. Aber wir kratzen wir die Kurve? Wie schaffen wir die Umkehr, zu der Christus uns immer wieder aufruft? Wie folgen wir Christus nach, diesem guten und radikalen Hirten, der sogar sein Leben für die Schafe läβt?

Viele der ersten Nachfolgenden interpretierten die Nachfolge radikal: dass auch sie ihr Leben für ihren Glauben und die Herde lassen. Stephanus, Petrus, Paulus, Andreas – all diese Jünger und Apostel starben wegen ihres Glaubens. Und es gibt unzählige Martyrer in der Neuzeit wie Dietrich Bonhoeffer, Martin Luther King, Jr. – und gerade diesen Monat haben wir ja der Martyrertode beider gedacht. Für diese Christen bedeutete Nachfolge, ihr Leben zu lassen um der Liebe und des Mitgefühls für die unterdrückten, ausgebeuteten, verfolgten und verdrängten Nächsten willen. Sie verstanden: es geht nie nur um uns und unsere persönliche Beziehung zu Gott. Es geht immer um das Wohl der gesamten Herde.

Wir mögen uns nicht dazu berufen zu fühlen, Christus so radikal nachzufolgen – und ich denke auch nicht, dass Gott dies von uns erwartet. Doch das geringste, das wir tun können und wozu wir berufen sind ist, dass wir unser Leben doch irgendwie hingeben – so, wie wir es heute in der Lesung aus dem 1. Johannesbrief hörten. Nachfolge bedeutet, unser Leben mit anderen zu teilen, je nach unseren Gaben und Talenten. Wir sind dazu berufen, Christus auf dem Weg der radikalen Liebe nachzufolgen, die sich in den Werten ausdrückt, die Christus uns gelehrt hat und die das Reich Gottes charakterisieren: Friedensstiftung, Demut, Mitgefühl, das sich Kümmern um die Armen und Schwachen, Gerechtigkeit, die Liebe zum Nächsten und zu denen, die wir als Feinde ansehen.

Wir können darauf vertrauen, – auch, wenn wir unser Leben mit anderen teilen und es so hingeben – dass es uns an nichts mangeln wird. Denn da gibt es den guten Hirten, der uns auf grüner Aue und zum frischen Wasser führt, der bei uns ist in den finsteren Tälern unseres Lebens, und der uns ein ewiges Zuhause verheiβt. Da gibt es diesen guten Hirten, der uns so radikal liebt, dass er sogar sein Leben für uns läβt. Selbst, wenn wir uns und unser Leben miteinander teilen, so kann uns das, was uns von unseren liebenden und sorgenden Gott gegeben ist, nicht genommen werden. In der Gegenwart Gottes und der Gegenwart unserer Brüder uns Schwestern wird uns wird nichts mangeln – niemals.

 

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