Manchmal, wenn ich so auf mein Leben zurückschaue, denke ich mir: Mensch, du hast eigentlich viel Glück gehabt! Z.B. dass ich während einer Zeit des Wohlstands und des Friedens geboren wurde, und nicht im dunklen Mittelalter. Dass ich Deutschland geboren wurde, und nicht in einem der vielen Länder dieser Welt, in der es elende Armut und Konflikte gibt – oder in einem Land, in dem Frauen als minderwertig angesehen werden und nicht dieselben Chancen wie in vielen entwickelten Nationen dieser Welt haben. Heute ist der Internationale Tag der Frauen, und wir erinnern uns daran, dass die meisten Frauen und Maedchen in der Welt heute noch stark benachteiligt oder gar unterdrueckt werden.

 

Ich habe Glück gehabt, dass ich in einem Land aufwuchs, wo ich, die Enkelin von Kriegsflüchtlingen und von Tagelöhnern, die Chance hatte, eine höhere Bildung zu bekommen, dank BaFög. Ich frage mich manchmal, ob ich hier in den USA die gleiche Chance gehabt hätte.

 

Manchmal frage ich mich, ob ich nicht Glück bezüglich meiner Hautfarbe gehabt habe. Ich bin mir dessen bewuβt, dass ich viele Privilegien habe, weil ich weiss bin – und dass es viele Vorurteile und Ungerechtigkeiten gegen Menschen dunklerer Hautfarbe gibt, sei es in Deutschland oder auch hier.

 

Manchmal frage ich mich, ob ich nicht Glück gahabt habe, mit einem Körper geboren zu werden, in dem ich mich wohlfühle – bis auf die leidige Geschichte mit dem Gewicht – und dass ich eine Sexulität habe, die in unserer Gesellschaft nicht hinterfragt oder im Extremfall gar verteufelt wird.

 

Es ist nun nicht so, dass mein Leben immer nur ein Zuckerschlecken gewesen wäre – da gab es schon schwierige und auch traumatische Ereignisse. Doch im Vergleich mit dem Groβteil der Menschen im Laufe der Geschichte, oder auch im Vergleich mit dem Groβteil der Menschen auf diesem Planeten heute geht es mir richtig gut. Und dies ist nur teilweise der Tatsache zuzuschreiben, dass ich dafür auch recht hart gearbeitet habe. Ich bin in Umstände geboren worden, die es mir insgesamt doch leicht gemacht haben, meine Ziele zu erreichen.

 

Und fast täglich frage ich mich: warum? Warum habe ich soviel Glück gehabt? Ich hätte in Niger geboren sein können, das ewig von Dürren und Hungersnöten geplagt ist. Ich hätte in El Salvador geboren sein können, einem Land, in dem es soviel Gewalt und Gangs gibt, oder in einer armen Gegend in Mexico. Ich hätte in Syrien geboren sein können – und könnte derzeit einer der unzähligen Menschen sein, die irgendwo zwischen der Türkei und Griechenland feststecken und weder vor noch zurückkönnen. Und, und, und…

 

Aber ich bin’s nicht. Ich habe Glück gehabt.

 

Ich weiss nicht, ob Sie denken, dass Sie Glück gehabt haben. Aber wenn ich mich so umschaue, dann denke ich, dass die meisten, wenn nicht sogar alle hier, es ganz gut getroffen haben, oder?

 

Natürlich weiss ich, dass es für viele hier nicht immer einfach war. Als Pastorin einer Gemeinde, die so eng mit deutscher Sprache und Kultur verbunden ist, einer Gemeinde, die im Laufe ihrer 125jährigen Geschichte hauptsächlich ein Anlaufpunkt von Immigranten aus dem deutschsprachigen Raum war, habe ich so einige haarsträubende Geschichten gehört. Vom Krieg und dem Chaos, was danach kam. Von Hunger und Miβbrauch und Verlust und Tod. Von Heimatlosigkeit und dem Problem, einen Platz in einem Deutschland zu finden, dass nach dem 2. Weltkrieg so geschrumpft war. Ich habe Geschichten darüber gehört, wie Menschen – Sie – es hier durch harte Arbeit und Hartnäckigekit geschafft haben, sich hier ein Leben neu aufzubauen.

 

Als Pastorin dieser Gemeinde, die so nahe am Castro Bezirk liegt, habe ich auch Geschichten von Menschen gehört, die zeit ihres Lebens mit ihrer Sexulalität gerungen haben. Menschen, die irgendwo anders aufwuchsen, wo sie nicht akzeptiert wurden, und nach einem Ort suchten, an dem sie gröβere Akzeptanz finden.

 

Aber was mich immer wieder erstaunt: ja, es gibt die Möglichkeit, sich aus einer nicht so guten Situation zu befreien und ein neues Leben, eine neue Existenz zu wagen. Viele hier sind das beste Beispiel dafür. Aber, wenn man darüber nachdenkt, dann hat das auch wieder etwas mit einer gehörigen Portion Glück zu tun. Denn der überwältigende Grossteil der Erdbevölkerung hat nicht diese Chance, neu zu beginnen und etwas aus sich zu machen.

 

Es gibt immer noch Gesellschaften in dieser Welt, wo Menschen in eine bestimmte Klasse oder Gruppe geboren werden – und dort zeit ihres Lebens bleiben. Das Kastensystem, wie wir es aus Teilen Indiens kennen, wäre ein Beispiel. Es gibt auch heute noch viele Gesellschaften, in der Mädchen bzw. Frauen unterdrückt und misshandelt werden, ohne eine Chance, diesen Umständen zu entkommen. Wenn man erst einmal auf der Strasse landet und obdachlos wird, ist es extrem schwer, wieder den Eintritt in ein ‘normales’ Leben zu finden. Man steckt fest. Das ist die Realität für viele Menschen.

 

Zu biblischen Zeiten waren die sozialen und gesellschaftlichen Strukturen sehr einschränkend. Man wurde in eine bestimmte Familie, einen Klan, eine soziale Klasse geboren – und dies bestimmte dann auch den Status oder Stand einer Person.

 

‘Status’ kommt aus dem Lateinischen, und, ja, es heisst ‘Stand’. Man steht, man bleibt dort stehen, der Stand wird zum vorherbestimmten Schicksal. In biblischen Zeiten war das ganz normal. Die Freiheit, sein Schicksal mit zu bestimmen? Gab es eigentlich nicht.

 

Obwohl es so scheint, als sei dies nicht Gottes Idee gewesen. Wenn man sich die Bibel so anschaut, dann ruft – beruft – Gott immer wieder Menschen, sich auf den Weg zu machen, ihren Status zurückzulassen, neu anzufangen.

 

Ich möchte nicht wissen, was sich Abrahams und Sarahs Familien so dachten, als Abraham ihnen verkündet, dass Gott ihm geboten hat, sich auf den Weg zu machen. Geh aus deinem Vaterland und von deiner Verwandtschaft und aus deines Vaters Hause in ein Land, das ich dir zeigen will. Und ich will dich zum grossen Volk machen und will dich segnen und dir einen grossen Namen machen, und du sollst ein Segen sein. So haben wir heute aus dem 1. Buch Mose gehört.

 

Abrahams Familie dachte sich vielleicht: Bist du verrückt? Du gehörst hierher! Hier geht es dir gut, hier findest du Schutz. Warum willst du dich auf dieses Abenteuer einlassen?

 

Doch ohne dieses Wagnis, diese Reise ins Ungewisse, wäre Gottes Verheissung an Abraham nicht erfüllt worden. Abraham wurde zum Vorvater vieler. Juden, Christen und Muslime haben Abraham als ihren Vorvater im Glauben. Wäre Abraham nicht dem Ruf Gottes ins Ungewisse gefolgt, hätte es diesen Segen nicht gegeben, der auf unzählige Generationen überging.

 

Nikodemus, der zu Jesus im Schutz der Dunkelheit kommt, hat einen gewissen Status in der Jerusalemer Gesellschaft. Sein Name allein beweist schon, dass er der Oberklasse angehört: das griechische Nikodemus bedeutet wortwörtlich ‘Siegreich im Volk’ oder ‘unter dem Volk’. Ganz schön selbstbewusst, oder? Nikodemus wurde in die jüdische Oberschicht geboren, als Sohn einer religiösen Führungspersönlichkeit. Da hat er Glück gehabt! Titel und Amt des Vaters wurden an ihn weitervererbt. Er hatte ein privilegiertes Leben, da er quasi im Schatten des Jerusalemer Tempels aufwuchs und erzogen wurde. Keine Frage: ihm geht’s gut!

 

Und doch – und doch kommt er zu Jesus. Es scheint, als suche er nach Gott, als hätte ihm sein Status noch nicht alle Fragen beantwortet. Vielleicht hofft er, von diesem mysteriösen Jesus eine Antwort zu bekommen. Könnte er vielleicht der lang erwartete Messias sein?

 

Doch merken wir auch, dass Nikodemus nicht ganz unvoreingenommen ist. Er zögert, Jesus als von Gott gesandt zu akzeptieren. Wie könnte jemand wie dieser Jesus, der Sohn einers Zimmermanns aus dem Provinzkaff Nazareth, der Auserwählte Gottes sein? Jesus’ gesellschaftlicher Status ist schon ziemlich fragwürdig.

 

Und wir merken, dass Nikodemus so seine Probleme damit hat, zu akzeptieren, dass es Gottes Wille ist, dass sich Dinge ändern – und auch der Status von Menschen geändert werde. Dass jemand aus seiner bisherigen Existenz gerufen – berufen – werden könnte, um ins Ungewisse aufzubrechen und so ein Segen zu werden. Dass Gott uns eine neue Chance gibt, ein neues Leben, das jegliche menschliche Erfahrung übersteigt.

 

Es hat schon seinen Grund, warum Nikodemus es einfach nicht begreifen kann, wie jemand wie er von Neuem geboren werden könnte – eine neue Existenz in Gott und durch Gott geschenkt bekommen könnte. Und warum auch? Ihm geht’s doch gut.

 

Mal ganz ehrlich: möchten Sie, dass Ihr Leben auf den Kopf gestellt wird und Sie von Neuem geboren werden? Nach alledem, was Sie getan haben, um dahin zu gelangen, wo Sie jetzt sind? Ich lasse die Frage mal so stehen.

 

Aber versetzen Sie sich mal in die Lage, in der viele Menschen in dieser Welt sind. Menschen, die z.B. ihr Heimatland verlassen, sei es wegen Krieg, Gewalt, Hunger oder wirtschaftlicher Sackgassen. Wenn Sie nicht da sind, wo Sie sein wollen, dann ist es doch ganz natürlich, dass man einen Wandel, eine Veränderung zum Besseren will.

 

Warum hatte Jesus soviel Erfolg bei denen, die eben nicht wie Nikodemus waren: den Unterprivilegierten, dem Landvolk, den Besitzlosen, den Unterdrückten, den Frauen? Jesu Botschaft eines neuen Lebens, einer neuen Existenz in Gott, gab denen, die in ihren nicht so tollen Umständen feststeckten, Hoffnung. Es ist nicht Gottes Willen, dass es dir dreckig geht. Ihr, die ihr im Moment nichts habt, keinen besonderen Status, sollt eine neue Geburt erfahren – und ein neues Leben. Als Kinder und Erben des Gottesreichs. Das ist radikal und revolutionär!

 

Aber fairerweise muss ich auch sagen, dass es immer wieder Menschen erhobenen Status im Laufe der Geschichte gab, die sich auf diese neue Geburt und ein neues Leben in Gott einliessen. St. Franziskus von Assisi z.B., nach dem diese Stadt, in der wir leben, benannt ist, liess sein privilegiertes Leben als der Sohn und Erbe eines reichen Kaufmannes zurück, um ein Leben in Solidarität mit den Armen zu leben.

 

Und Nikodemus? Wie geht’s mit ihm weiter? Da tappen wir im Dunkeln. Wir wissen nicht, ob Nikodemus sich doch darauf einläβt, eine Neugeburt zu wagen und ein neues Leben zu leben. Wir wissen nur, dass er nach Jesu Kreuzigung sich gemeinsam mit Josef von Arimatäa um den Leichnam kümmert – und 100 Pfund kostbaren Salböls zur Verfügung stellt, viel mehr, als zur Einbalsamierung benötigt wird. Ist dies der Beweis, dass Nikodemus von Neuem geboren wurde? Oder tut er wegen eines schlechten Gewissens zuviel des Guten?

 

Nikodemus hatte Glück im Leben. Die meisten unter uns, wenn nicht sogar alle, hatten Glück im Leben. Aber das heisst noch lange nicht, dass wir gesegnet sind. Es ist ein Ding, etwas aus uns zu machen; es ist ein anderes Ding, von Gott ein neues Leben, eine neue Existenz geschenkt zu bekommen und auf neue Wege gesandt zu werden, wo wir – als die, die durch den Geist der Taufe neu geboren wurden und dadurch Segen erfahren – selbst zu einem Segen für andere werden.

 

Es ist ein Segen, dass wir niemals feststecken. Gott schenkt uns jeden neuen Tag die Chance, neu geboren zu werden. Gott hat die erstaunliche Macht und auch den Willen, jegliches Stigma aus dem Weg zu räumen, das wir hier auf Erden tragen. Gott erhöht uns und macht uns zu Kindern und Erben des Reiches Gottes, ganz egal, was unser derzeitiger Status hier auf Erden ist.

 

Das ist ein tolles Geschenk. Aber als Erben tragen wir Verantwortung. Wir müssen mit dem uns anvertrauten Erbe behutsam und verantwortlich umgehen. Wir müssen uns um das, was Gott erschaffen hat, kümmern. In gewisser Weise vertreten wir unseren himmlischen Vater hier auf Erden. Wir sind gesegnet – und als solche haben wir die Verantwortung, anderen ein Segen zu sein.

 

Und es gibt unzählige Möglichkeiten, ein Segen zu sein. Wir können Opfern von Krieg, Gewalt, Armut und Naturkatastrophen helfen. Wir können uns dafür einsetzen, dass die Würde unserer Mitmenschen gewahrt wird. Wir können jemandem beistehen, der unseren Trost oder unsere Ermutigung braucht. Segen ist an vielen Orten dieser Welt bitter nötig. Eine neue Geburt, ein Neubeginn ist an vielen Orten dieser Welt bitter nötig.

 

Paradoxerweise ist es unser Status, unser Stand als neugeborere und gesegnete Kinder Gottes, vom Geist Gottes in Bewegung gesetzt, bewegt zu werden.

Möge Gott uns dazu bewegen, dorthin zu gehen, wo wir benötigt werden. Mögen wir während unserer Reise durch die Wüste dieser Passionszeit neu entdecken, was es bedeutet, gesegnet zu sein – und anderen ein Segen zu sein.

 

 

 

Bild von Alex Hockett via unsplash.com

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