Vor ein paar Wochen wurde ich eingeladen, am Pacific Lutheran Theological Seminary, also dem lutherischen Seminar in Berkeley, anläßlich der diesjährigen ‘Luther Lectures’ am 8. März zu predigen. Das war schon eine ganz schöne Überaschung und auch eine große Ehre. Aber dann machte mich das auch ziemlich nervös: vor Theologieprofessorinnen und –professoren, dem Bischof, Kolleginnen und Kollegen und all den Teilnehmern, die hauptsächlich kommen, um einen phantastischen Vortrag zu hören, zu predigen, ist nicht einfach.
Nun war der 8. März der Internationale Tag der Frauen. Und, ganz passend, war dann auch das Thema des Vortrages ‘Luther und Frauen’, und dieser wurde von einer wunderbaren dänischen Luther Expertin gehalten, Professorin Else Marie Wiberg Pedersen. Der Vortrag war wirklich exzellent: Wiberg Pedersen stellte heraus, daß Luther seiner Zeit in vielem weit voraus war, und zwar auch in Hinsicht auf Frauen und die Geschlechtergleichheit. Er hatte Hochachtung vor seiner Frau, Katharina, und betsimmte sogar, daß sie seine Erbin nach seinem Abeleben sein sollte – und das zu einer Zeit, in der die Gesetze es einer Frau verboten, Eigentum zu besitzen. Doch leider waren dann die Gesetze stärker als Luthers letzter Wille, und Katharina bekam einen Vormund, der ihr Geld leider verschwendete. Luther machte sich auch für ein öffentliches Schulwesen für alle Klassen, Jungen und Mädchen, stark. Dies sind nur einige Beispiele für Luthers Fortschrittsdenken in Hinsicht auf Frauen.
Und so entschied ich mich, über die zu predigen, die in der Heiligen Schrift, in der Geschichte und auch heute noch häufig übersehen werden; über die, die in dieser Welt auch heute noch viel Unterdrückung und Gewalt erfahren, über die, die auch in unserer Gesellschaft häufig noch mit dem kämpfen müssen, was man so schön auf englisch ‚glass ceilings‘, gläserne Decken, nennt, also unsichtbare Barrieren für die berufliche Karriere: Frauen. Und übrigens wählte ich als Predigttext die Geschichte aus dem Evangelium, das wir heute gehört haben. Und da wir immer noch den Monat der Frauen begehen, dachte ich, teile ich einfach mit Ihnen, was ich vor 11 Tagen in Berkeley predigte.
Frauen – wir begegnen ihnen überall. Häufig sind sie im Hintergrund, aber selten müßig. Sie spinnen und weben, sie nähren und ziehen groß, sie schöpfen Wasser und führen Haushalte, und, ja, manchmal sogar Ländereien und Staaten, und das ist längst noch nicht alles. Wenn Sie je mal in Wittenberg gewesen sind ofer Bilder vom schwarzen Kloster gesehen haben, wo die Luthers lebten, dann wissen Sie vielleicht, daß es dort im Hof eine ungefähr lebensgroße Statue von Katharina Luther, auch als Katharina von Bora bekannt, gibt. Und diese Statue zeigt Katharina, wie sie durch einen Türbogen schreitet, und ihr Schritt ist energisch und geschäftig. Das ist ein ganz schöner Gegensatz zu all den Statuen von Martin Luther, die ich kenne. Denn da steht der Martin dann, ‚hier stehe ich‘, mit Bibel im Arm und dem Blick heldenhaft in die Ferne schweifend. Ja, da steht er. Still. Unverrückbar. Und ich überlasse es Ihnen, darüber nachzudenken, was diese zwei so unterschiedlichen Haltungen so aussagen.
Nun stellen Sie sich einmal einen Tag ohne Frauen vor. Stellen Sie sich eine Geschichte ohne Frauen vor. Ja, da gäbe es ja gar keine Geschichte ohne Frauen! Denn irgendjamand muß ja dieses wichtige Ei mit all der Erbinfomation zum neuen Leben beitragen, das dann im Verborgenen so wunderbar geschaffen wird. Und jemand muß dieses neue Leben dann ja auch gebären, und das schließt all die so wichtigen Mäner der Geschichte mit ein. Jesus Christus was ganz Mensch und konnte auch nicht darum umzu, von einer Frau, Maria, geboren zu werden.
Stellen Sie sich die Bibel oder unsere heilige Abstammungsgeschichte ohne Frauen vor. Zugegebenermaßen handeln die meisten biblischen Geschichten von den großen Taten – und Verfehlungen – von Männern, doch es gibt sie überall, Frauen, ein wichtiger Bestandteil der Geschichte von Gott und Mensch. Christus spricht mit Frauen, er spricht über Frauen und macht sie zu Beispielen, und er verteidigt die frommen und leidenschaftlichen Taten der Frauen um ihn herum. ‚Wahrlich, ich sage euch: Wo dies Evangelium gepredigt wird in der ganzen Welt, da wird man auch sagen zu ihrem Gedächtnis, was sie getan hat.‘ Ohne Maria Magdalena, Salome und die andere Maria wäre die lebensspendende und lebensverändernde Botschaft der Ostern nie verbreitet worden.
Und heute hörten wir die faszinierende Geschichte der samaritanischen Frau am Brunnen. Und dies ist nicht nur irgendein Brunnen, nein, es ist der Jakobsbrunnen, ein Ort mit heiliger Geschichte, ein Ort der Ahnenschaft, ein Ort großer symbolischer Bedeutung. Dieser Brunnen liegt auf dem allerersten Grundstück, das Jakob in Kanaan kauft – nach seinem langen Exil im Osten, in Haran. Jakob macht somit seinen Anspruch auf diesen Grund im fremden Lande gültig. Und er gibt auch darauf acht, daß das Leben auf diesem Grund gedeihen wird, den da gibt es einen Brunnen, eine Wasserquelle, kostbares Wasser, Wasser, das aus der Erde quilt, Wasser, das den Durst von Pflanze, Tier und Mensch stillt, Wasser, das Leben gibt und Leben fördert.
Dies ist ein tiefer Brunnen, ein Brunnen, der den Durst unzähliger Generationen gestillt hat. Aber dann muß jemand dieses Wasser holen, jeden Tag aufs neue; jemand muß dieses kostbare Naß aus der Tifee schöpfen. Und wer wäre besser für diese Aufgabe geeignet als Frauen? Und so kommen sie, in der Morgen- und Abenddämmerung, sie lachen und schwatzen und beschweren sich, eine Schwesterschaft mit einer gemeinsamen Aufgabe, eine heilige Gemeinschaft, wo jede der anderen dabei hilft, das Wasser zu schleppen; der Brunnen erwacht wahrhaft zum Leben, wenn die Frauen sich dort zum Wasserholen versammeln, bevor sie dann wieder zurück in den Ort, zu ihren Familien kehren und ihren täglichen Pfichten nachgehen. Und an vielen Orten in dieser Welt, wo Wasser noch von Brunnen und Quellen geholt werden muß, gibt es diese Schwesternschaft und diese heilgen Zeiten noch heute.
Es ist still in der Hitze und der gnadenlosen Grelle der Mittagssonne. Jesus ruht sich am Brunnen aus. Eine Frau naht sich, das leere Wassergfäß in der Hand. Wir wissen nicht mit Sicherheit, warum sie am Mittag kommt, um ihr Wasser zu schöpfen. Doch ist es sehr gut möglich, daß sie aus der Gemeinschaft der Frauen ausgeschlossen ist; vielleicht, weil sie keinen Mann hat; vielleicht, weil sie eine Frau fragwürdigen Rufes ist. Aber sie ist eine Außenseiterin. Doch schöpft sie dasselbe lebensspendende Wasser aus dem Brunnen.
Die Frau kann sich in der Mittagssonne nicht verstecken. Und, nur ganz nebenbei, welch ein Kontrast zu der Geschichte, die wir am vergangegen Sonntag von Jesus und Nikodemus gehört haben! Vielleicht erinnern Sie sich, Nikodemus kommt zu Jesus im Schutze der Dunkelheit, in der Nacht. Nun haben wir hier die Frau, dem Licht ausgesetzt, schutzlos, verletzbar. Doch scheint sie sich nicht vor dem Mann am Brunnen zu fürchten. Und warum sollte sie? Kein ehrenhafter Mann würde je eine Frau in der Öffentlichkeit ansprechen. Dann ist dieser Mann am Brunnen ganz offensichtlich ein Fremder, ein Jude, einer der anderen. Juden und Samariter haben eine komplizierte und schwierige Geschichte miteinander; diese zwei Volksgruppen tolerierten sich höchstens und vermieden einander, wenn es ging. Und dann ist der Mann auf fremdem Territorium hier, er ist der Gast, und die Frau hat den Heimvorteil. Da gibt es augenscheinlich nichts zu fürchten.
Doch dann passiert das Unfaßbare: Jesus spricht die Frau an. Welch ein Skandal! Nun scheint Jesu Bitte unschuldig genug: Gib mir zu trinken! Darauf erwidert die Frau – überascht? Empört? Alarmiert? – wie kommt es, daß du dich mit mir abgibst? Du müßtest doch wissen, daß dies gegen alle Regeln verstößt. Nun geht Jesus interessanterweise nicht auf die Frage der Frau ein, sondern beginnt eine lebendige theologische Diskussion mit ihr. Und das ist durchaus nicht nur einseitig, nein, die Frau hält sich wacker. Es wird klar, daß sie sich über viele Dinge Gedanken gemacht hat. Sie hat viele Fragen für den Fremden am Brunnen. Anstelle Wasser zu schöpfen, schöpft sie Antworten aus Jesus heraus, Antworten, die ihren Durst nach Akzeptanz, Verstehen und Liebe stillen.
Und man bemerke, daß hier zum ersten Mal das Wort ‘Messias’ im positiven Sinne im Johannesevangelium fällt. Zwar kommt es schon einmal im ersten Kapitel vor, aber nur, weil Johannes, der Täufer, verneint, daß er der Messias sei. Die Frau am Brunnen spricht ganz vorsichtig ihre Hoffnungen und Shensucht nach dem Messias aus. Und darin steckt auch die Frage: bist du etwa derjenige, auf den wir hoffen? Und Jesus bejaht dies: ‚ Ich bin’s, der mit dir redet.‘ Das ist eine enorme Aussage, überwältigend!
Und gleichwie die Frauen am leeren Grab Christi ihre Freude und den Drang, die Botschaft von der Auferstehung Christi weiterzusagen, nicht zurückhalten können, so kann auch die Sameritanerin nicht anders, als die frohe Botschaft, die sie gerade selbst erlebt hat, auszubreiten und zu teilen.
Sie rennt in den Ort, sie läßt ihr leeres Wassergefäß zurück, denn nun ist sie mit etwas Wertvollerem erfüllt; sie hat nichts zu verlieren, denn ihr Ruf ist wahrscheinlich eh schon hin, sie schert sich nicht darum, was die anderen von ihr denken mögen, sondern lädt ihre Mitmenschen ein, sich die Sache selbst anzuschauen: Kommt und seht, da sitzt ein Fremder am Brunnen, der mir alles über mein leben erzählt hat, der mich angesehen hat, der mich erkannt hat. Ob er wohl der Messias ist?
Diese Frau führt andere zum Quell des Lebens, sie schöpft das Wasser für andere, das zum ewigen Leben quillt. Sie ist die erste Apostelinfür die Menschen außerhalb von Galiläa und Judäa, eine ungewöhnliche Wahl, doch dort steht sie und verkündet die frohe Botschaft. Und die Leute hören ihr zu: vielleicht zunächst, weil es einmal so skandalös ist, vielleicht, weil sie auf ein Spektakel hoffen. Doch sie gehen hin und sehen und erfahren selbst, and sie laden Jesus ein, zwei Tage bei ihnen zu bleiben. Und danach können sie mit Überzeugung sagen: „Dieser ist wahrlich der Welt Heiland.“Die Fremden, die Außenseiter, die Verachteten sind die ersten, die laut dem Johannesevangelium Jesus als ihren Messias und Heiland anerkennen. Das muß man sich mal durch den Kopf gehen lassen!
Jesus macht so seinen Anspruch auf diesen Grund im fremden Lande gültig Er teilt das Wasser, das den universalen Durst nach Gerechtigkeit, Versöhnung, Frieden und Leben, und somit heilt er, er überwindet die Zerpaltungen zwischen Menschen, er überwindet die Idee, daß bestimmte Menschen irgendwie ‚anders‘ sind, und ruft alle zusammen in die Gemeinschaft Gottes, wo weder Frau noch Mann, Jude oder Grieche, Sklave oder Freier mehr ist – er ruft alle zusammen in das Reich Gottes.
Und welche eine dringende Botschaft dies ist in einer Welt und einem Land, wo Führungspersönlichkeiten die Angst vor dem Fremden ond den anderen schüren, um ihre politischen oder wirtschaftlichen Interessen durchzusetzen. Wie dringend diese Botschaft ist in einer Welt, in der es so leicht ist, Menschen Angst zu machen und sie davon zu überzeugen, daß man sich am besten gegen alles Fremde mit Mauern und mehr Waffengewalt schützt. Wo sind wir hingekommen, daß wir uns von anderen abgrenzen, anstelle sie als Brüder und Schwestern anzusehen, die, so wie auch wir, so wunderbar im Verborgenen des Mutterleibes geschaffen worden sind.
Wir wissen nicht, was mit der anonymen Samaritanerin passiert, nachdem Jesus seines Weges zieht. Doch stehen die Chancen ganz gut, daß sie wieder in die Gemeinschaft eingegliedert wurde; vielleicht wurde ihr ja auch eine besondere Ehre zugeteilt – schließlich wurde diese Geschichte weitererzählt, der Evangelist Johannes befand diese Geschichte für so wichtig, daß er sie niederschrieb und somit weitererzählte; und so erzählen wir diese Geschichte noch heute, denn ‚wo dies Evangelium gepredigt wird in der ganzen Welt, da wird man auch sagen zu ihrem Gedächtnis, was sie getan hat.‘
Und heute gedenken wir dieser bemerkenswerten Frau am Brunnen; und nicht nur ihrer, sondern all der Frauen, die, oft anonym, im Namen Gottes die frohe Botschaft in Wort und Tat weitergaben und das lebendige Wasser des Lebens für ihre Mitmenschen schöpften. Indem wir aller treuen und gläubigen Frauen in der Menschheitsgeschichte und der heutigen Welt gedenken, erhöhen wir nicht eine bestimmte Bevölkerungsgruppe über eine andere, nein, wir bewundern den gesamten Leib Christi in all seiner Schönheit und Vielfalt und mit seinen vielfältigen Aufgaben zusammen. Ohne Frauen ist dieser Leib einfach nicht komplett und auch nicht dazu fähig, wahrhaftig Gottes liebende, vergebende und heilende Gegenwart in der Welt zu sein. Ohne jegliche bestimmte Gruppe von Kindern Gottes ist der Leib Christi einfach nicht komplett.
Und so sind wir heir und heute zusammen, Männer und Frauen, Kinder Gottes, der Leib Christi; und wir leben die frohe Botschaft, indem wir singen und beten und bekennen und lieben und vergeben und versöhnen und teilen; und ich hoffe, daß wir, so wie Katharina Luther, nach diesem Gottesdienst energisch und geschäftig durch diese Türen schreiten, in die Welt, die Gott so sehr geliebt hat, daß er seinen eingeborenen Sohn gab, und daß wir dann diejenigen sind, die das Wasser schöpfen udn teilen, das zum ewigen Leben quillt, in all den Wüsten, die wir finden – und wir wissen alle, wie wüst es dort draußen oft ist. Und wir alle sind dazu berufen. Das Geschenk des lebendigen Wassers wird uns zur Verantwortung. Und möge Gott uns dabei helfen, es mit der Welt zu teilen.