In der heutigen Evangeliumslesung befindet sich Jesus auf dem Weg nach Jerusalem, und er weiss, dass seon Leiden und Tod kurz bevorstehen.
Nun ist Jesus zu jenem Zeitpunkt eine kontroverse Person: verehrt von vielen, doch dann auch verachtet oder gar gefürchtet bei anderen. Da gibt es so einige, die Jesu Lehre über das Reich Gottes – ein Reich, das so ganz anders ist als alles Reiche auf dieser Welt, ein Reich, wo alle menschlichen Werte auf den Kopf gestellt werden und Reichtum und Erfolg nichts gelten – als Bedrohung empfinden.
Als eine Bedrohung ihres Lebensstils, eine Bedrohung ihres Verständnisses von der Welt, eine Bebrohung ihrer Macht und ihres Einflusses. Unter ihnen befindet sich Herodes, König von Galiläa und Peräa, der Landesherr Jesu, ein Marionettenkönig von Roms Gnaden, dessen Macht vom Schutz Cäsars abhängt.
Nun denken wir ja normalerweise, dass die Pharisäser die ‘bad guys’ in den Evangelien sind, Jesu Widersacher. Doch ist dies mehreren zeitgenössischen Theologen zufolge überhaupt nicht der Fall. Jüdische Gelehrte, die sich mit den jüdischen Gesetzen, der Thora, befassten – wie die Pharisäer – stritten sich gerne und häufig über Gott, die Welt, und die heilgen Schriften. Das war einfach ein Teil ihrer Kultur – eben mehr zu lernen und ihre Horizonte durch solche Diskussionen zu erweitern.
Sich mit jemandem zu streiten bedeutete eben nicht, dass man sich gegenseitig verachtete – nein, wenn ein Pharisäer mit einem anderen Gelehrten ein Streitgespräch führte, so war dies ein ehrenwerter Austausch und ein Ausdruck von Respekt – ich erachte dich für einen würdigen Streitpartner.
Die Pharisäer liessen sich sogar durch gute Argumente umstimmen – und das war eben der Zweck von Streitgesprächen, den gedanklichen Horizont zu erweitern. Das finden wir heute leider häufig nicht mehr so.
Und so denke ich, dass es gut ist, sich all dies in Erinnerung zu rufen, gerade in einer Zeit, in der wir annehmen, dass jemand automatisch zu unserem Gegner wird, wenn er oder sie unsere Meinung nicht teilt oder uns dazu herausfordert, unsere Meinung zu überdenken. Ich denke, es ist gut, sich all dies in Erinnerung zu rufen, gerade in einer Zeit, in der Leute anscheinend keine respektvollen und kultivierten Diskussionen oder auch Streitgespräche haben wollen oder können. Es ist gut, sich in Erinnerung zu rufen, dass es ohne Diskussionen und Streitgespräche, die im Laufe der Jahrtausende unter den Gelehrten geführt wurden, nie gedanklichen Fortschritt gegeben hätte.
Die Pharisäer, die Jesus in Streitgespräche verwickeln, erachteten Jesus als einen würdigen Diskussionspartner – sie respektierten ihn, und einige, wie wir im heutigen Evangelium hören, wollen ihn sogar schützen. ‘Mach dich auf und geh weg von hier, Jesus! Denn Herodes (der sich gerade zum Passahfest in Jerusalem aufhielt) will dich töten.’
Nun weiss Jesus, dass sein Leiden und Tod unvermeidbar sind. Und so klagt er: ‘Jerusalem, Jerusalem, die du tötest die Propheten und steinigst, die zu dir gesandt sind! Wie oft habe ich deine Kinder versammeln wollen wie eine Henne ihre Küken unter ihre Flügel, und ihr habt nicht gewollt!’
Jesus beklagt, dass die, die an der Macht sind, oft nicht den Mut haben, sich Herausforderungen zu stellen – auch, wenn das Resultat einer solchen Herausforderung womöglich zu besseren Verhältnissen führte. Anstelle haben die an der Macht oft zuviel Angst, ihren Status und ihre Macht zu verlieren, so dass sie sich lieber dessen entledigen, was sie als Bedrohung empfinden – und sei es durch Mord. Tyrannen, die im Grunde alle Feiglinge sind, haben zu allen Zeiten und an allen Orten dieser Welt ihre Macht durch Terror und rohe Gewalt zu verteidigen versucht.
Jesus hätte Jerusalem und seine Kinder verdammen und verfluchen können. Aber Jesus ist nicht wütend – es tut ihm um Jerusalem und die, die darin wohnen, weh. Es tut ihm sogar um die weh, die sich vor diesem neuen und so ganz anderen Reich fürchten, das er in Wort und Tat verkündigt, in diesem Reich, in dem die Liebe Gottes all das, was wir in dieser Welt schätzen und für Wert erachten, auf den Kopf stellt.
Jesus sehnt sich danach, dass sie unter seinen Flügeln, unter Gottes Flügeln, versammeln und dort den Schutz und die Sicherheit zu finden, die der Psalmist in dem Gebet beschreibt, das wir heute gesprochen und gesungen haben, selbst im Angesicht derer, die unsere Feinde sind oder uns wie Feinde erscheinen: Der Herr ist mein Licht, mein Licht und mein Heil und mein Zuhaus…
Nun wäre es einfach für uns, anzunehmen, dass Jesu Wehklage über das Schicksal Jerusalems sich nur auf seine ganz konkrete Situation bezieht. Aber ist der komplexe und komplizierte Kontext, in dem Jesus sich befindet, nicht nur auf seine Zeit und das Jerusalem des ersten Jahrhunderts n. Chr. beschränkt. Menschen wie Herodes, dieser feige Fuchs – Menschen, die um ihre Privilegien und ihren Lebensstil fürchten – Menschen, die Gewalt anwenden, um die loszuwerden, die ihnen bedrohlich erscheinen und unbequem werden – hat es zu allen Zeiten und an allen Orten gegeben.
Viele solcher Menschen erkennen wir an der Endsilbe ‘-isten’: Rassisten, Sexisten, Extremisten, Nationalisten, Faschisten, Suprematisten, usw., usw. Es spielt dabei keine Rolle, welchem ‘Ismus’ Menschen anhängen – sie haben Angst, dass ihnen ihre Privilegien, ihre Macht und ihr Status irgendwie von Menschen weggenommen werden, die anders sind und als minderwertig angesehen werden.
Erst am vergangenen Freitag verübte ein ‘white supremacist’, ein weisser Suprematist, ein Attentat auf zwei Moscheen in Christchurch, Neuseeland, tötete 49 Menschen und verletzte dutzende mehr – und womöglich gab es da auch Komplizen. Es war eine geplante und kaltblütige Tat – sie wurde sogar auf sozialen Medien angekündigt. Der Attentäter sandte Videoaufnahmen dieser Schandtat life über soziale Medien. Der Terrorist oder die Terroristen brüsteten sich also dieser Tat – und wollten, dass die Welt zusieht und sich der Terror auch woanders ausbreitet.
Diese Attentate sind besonders schockierend und verabscheuungswürdig, weil sie zu einer Zeit und an einem Ort stattfanden, da die Opfer besonders verwundbar waren: beim Gottesdienst, während einer Zeit des friedlichen Gebets – während einer Zeit, als sich die Gemeinde vertrauensvoll in der Gegenwart Gottes versammelten, wie sich Küken unter den Flügeln ihrer Mutter versammeln.
Das erste Opfer war ein älterer Mann, der an der Tür stand und Besucher willkommenhiess. Seine Worte an den Attentäter, als er in die Moschee eintrat: ‘Willkommen, Bruder.’
Natürlich ist dies nicht der erste Angriff auf Menschen, die sich zum Gebet versammeln. Erst im vergangenen Oktober wurden 11 Menschen in der ‘Tree of Life’ Synagoge in Pittsburgh bei einem ähnlich feigen Attentat getötet. 2015 erschoss ein weisser Suprematist, der zu allem auch einer unserer Schwesterkirchen in der ELCA angehörte, 9 Menschen schwarzer Hautfarbe während einer Bibelstunde in der Mother Emanuel Kirche in Charleston, South Carolina.
Dies sind nur einige Beispiele der Gewalt gegen Menschen, die sich zum Gebet versammeln. Es passiert in aller Welt, und es passiert häufiger, als wir denken – wir hören meistens nur nicht davon. Die Opfer sind Christen, Muslime, Juden, Sikh, Buddhisten, Hindus – und oft Minoritäten. Ein jegliches Attentat muss verurteilt werden, denn solche Gewalt steht für eine Art von Religion oder Ideologie, die blind und irre ist – und diese Welt zu einer Hölle macht, in der das Friedensreich Gottes immer mehr in die Ferne rückt.
Jesu Wehklage klingt durch Raum und Zeit: Jerusalem, Jerusalem! Es ist eine Klage, der in alle Welt hallt, an all jene Orten, wo die, die Macht haben, gewissenslos Gewalt jedweder Art gegen die Schwachen und Verletzlichen gebrauchen, um sie mundtot zu machen – sei es militärische, physische, wirtschaftliche, religiöse oder soziale Gewalt.
Dieser Schmerzensschrei ist auch für unsere Ohren bestimmt. Denn viele von uns, wenn nicht sogar alle, tragen da doch tief in unseren Herzen eine Furcht vor Verlust: dem Verlust unseres angenehmen Lebens, dem Verlust unseres Gefühls der Sicherheit, dem Verlust unserer Identität in einer Welt, die immer multikultureller wird.
Wir mögen nicht so weit gehen, Gewalt gegen Menschen zu gebrauchen, von denen wir uns irgendwie bedroht fühlen. Aber es ist doch verlockend, Menschen als ‘anders’ und ‘fremd’ zu bezeichnen und ihnen womöglich auch dadurch ihre Menschlichkeit abzusprechen – wenn sie eben nicht so aussehen wie wir, oder anders leben oder anders glauben oder eine andere politische Meinung haben.
Es ist so verlockend, andere zum Sündenbock für alle möglichen Dinge zu machen – und wenn wir sie nur loswerden könnten, oder sie irgendwie hinter Mauern halten könnten – aus den Augen, aus dem Sinn – dann wäre ja alles viel besser. Es ist so verlockend, einfach wegzuschauen, wenn Gewalt gegen eine verletzliche Mensschengruppe begangen wird.
Die Lehren Jesu Christi fordern uns dazu heraus, eben nicht diesen Verlockungen nachzugeben, sondern sowohl den Nächsten als auch den Feind zu lieben und sturköpfig Versöhnung mit denen zu suchen, die wir als ‘anders’ und ‘fremd’ empfinden. Die Wehklage Jesu Christi über Unrecht und Gewalt in dieser Welt muss zu unserer Wehklage werden.
Jesus Christus kam in diese Welt, um zu heilen und Versöhnung zwischen Gott und Mensch und Mensch und Mensch zu stiften. Christus zeigte uns durch sein Leben, sein Sterben und seine Auferstehung das Reich Gottes, ein Reich des Friedens. Wir gehören diesem Reich an und können stets unter Gottes Flügeln Schutz suchen. Gott ist unser Licht uns unser Heil, unser Zuhause. Auf Gott können wir vertrauen. Fürchtet euch nicht!
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