Predigt zu Lukas 15, 1-10; 16. Sonntag nach Trinitatis – 11. September 2016

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Verloren und gefunden. Lost and found.

Als meine Kinder noch in die Grundschule gingen, wühlte ich regelmӓβig in den riesigen Pappkartons, in denen all die Sachen gesammelt wurden, die die Kinder so tagtӓglich vergaβen oder verloren: Sweat Shirts, Jacken, Sportsachen, und, und, und. Selbst, wenn mir nicht bewuβt war, daβ ein Kleidungsstück fehlte, so ging ich doch auf Nummer sicher; und tatsӓchlich fand ich regelmӓβig etwas, von dem ich dachte, na, das kenne ich doch?

Als Mutter machte mich das immer verrückt, daβ meine Kinder, und besonders eines, so nachlӓssig und vergesslich waren. Und dann vermissten sie meist noch nicht einmal das verlorengegangene Kleidungsstück. Ich denke, es sagt etwas über unsere Konsumgesellschaft aus, daβ wir eben nicht das eine Sweat Shirt vermissen, das verlorengeht, sondern dann einfach zu den anderen Sweatern greifen, die im Kleiderschrank liegen.

Natürlich verlieren oder vergessen nicht nur Kinder ihre Sachen, das passiert uns allen. Hier in der Matthӓusgemeinde gehen viele Menschen unter der Woche ein und aus, und so landen manchmal Dinge in der Ecke für Fundsachen in unserem Büro. Meist rufen Leute an, ich habe das und das verloren, habt ihr es gefunden? Und so kӧnnen die meisten Fundsachen wieder mit ihren Eigentümern vereint werden. Aber dann gibt es da die Dinge, die schon eine Weile bei uns lagern. Einige Jacken, die unten im Gemeindesaal am Haken hӓngen. Eine Lesebrille. Ein Schlüssel. Diese Sachen sind nie abgeholt worden. Schon merkwürdig, oder? Sind die Gegenstӓnde, die wir tagtӓglich benutzen, so austauschbar geworden, daβ Leute noch nicht einmal mehr nach verlorenen Gegenstӓnden suchen oder sich nach ihnen erkundigen? Nach dem Motto, ach, da habe ich doch meine Brille verloren, kaufe ich halt eine neue?

Haben Sie jemals etwas verloren? Was war der bedeutsamste Gegenstand, den Sie je verloren haben – und es ӓrgerte Sie wirklich oder machte Sie traurig, daβ Sie diesen Gegenstand verloren? Haben Sie diesen Gegenstand je wiedergefunden? Und wenn nicht, war er ersetzbar?

Und nun lassen Sie uns ein biβchen tiefer gehen. Haben Sie je einen Menschen verloren? Jemanden, der oder die irgendwie aus Ihrem Leben verschwand, sei es, weil Sie andere Wege gegangen sind und den Kontakt verloren haben, sei es, weil Sie sich entfremdet oder zerstritten haben? Oder jemand, der Ihnen nahestand ist durch den Tod von Ihnen genommen worden? Wie fühlt es sich an, einen Menschen zu verlieren, wenn Sie es mit dem Verlust eines Gegenstandes vergleichen?

Ein Mensch, eine Person, ist nicht ersetzbar. Jeder Mensch ist einzigartig, jeder Mensch hat besondere Gaben und Eigenschaften, jeder Mensch hat seine persӧnlichen Eigenarten; und die Beziehungen, die wir mit diesen Menschen haben, ist ebenfalls einzigartig. Wenn wir einen Menschen verlieren, dann ist da ein Loch in unserem Leben, eine Wunde.

Wir gedenken heute der schrecklichen Ereignisse vom 11. September 2001, dem Tag, an dem Terroristen mehrere Flugzeuge entführten und tausende von Menschen ermordeten. Und wir merken, selbst nach all den Jahren, daβ es immer noch wehtut, und daβ die Menschen, die damals und auch in Folge der Ereignisse vom 11. September ihre Leben verloren, groβe Lücken hinterlassen haben. Wenn Sie das Denkmal am Ground Zero in New York City besuchen, dann sehen Sie die Namen all jener, die durch diese Angriffe ihr Leben verloren. Und da gibt es dann ab und zu eine Rose, einen Stein, ein Zeichen der Erinnerung und der Trauer, die neben einen Namen gelegt worden sind. Nein, die Opfer des 11. Septembers sind nicht vergessen worden. Ihr Verlust hinterlӓβt immer noch tiefe Wunden.

Wenn wir jemanden verlieren, dann mӧgen wir vielleicht heilen – aber es bleibt immer eine Narbe, die uns daran erinnert, was dieser Mensch uns bedeutet hat. Und oft schmerzt die Erinnerung; manchmal kӧnnen wir uns in Dankbarkeit erinnern, und manchmal erfahren wir beides. Was verloren ist, kann nicht wiedergefunden werden. Nicht in diesem Fall.

Wir leben in einer Welt, in der es nun mehr als acht Milliarden Menschen gibt. Es gibt somit viele Menschen, manchmal in unserer direkten Umwelt, die wir nicht kennen und über die wir nichts wissen. Und ich weiβ nicht, wie es Ihnen geht, aber wenn ich Menschen nicht kenne und nichts über sie weiβ, werden sie für mich zu einer anonymen Masse, zu etwas abstraktem; und wenn etwas abstrakt ist, dann habe ich keine besondere Verbindung, und diese Menschen gehen mich nichts an. Hier sagt man so schӧn, ‘I don’t care’.

Ich frage mich manchmal, ob es einfach für die Attentӓter vom 11. September war, die Anschlӓge auszufühen, weil die Opfer für sie nur eine anonyme Masse waren, etwas abstraktes, die Unglӓubigen, ein vage definiertes Feindbild.

Tagtӓglich hӧren wir Nachrichten aus aller Welt, Nachrichten über Gewalt, Katastrophen und Elend. Wir haben schreckliche Bilder gesehen, aus Lӓndern wie Syrien, Afghanistan und Mexiko. Wir erfahren von Menschen, die wӧrtlich um ihr Leben rennen und versuchen, dem Grauen zu entkommen, und ihre Heimat und alles Vertraute zurücklassen. Derzeit gibt es ca. 65 Millionen Flüchtlinge auf dieser Welt, Heimatlose, und wir haben es mit der schlimmsten Flüchtlingskrise seit Menschengedenken zu tun.

Und es ist so einfach zu sagen, was geht mich das an? Das ist deren Problem, und nicht meins. Es müssen Verӓnderungen in den jeweiligen Krisengebieten stattfinden, die Menschen dort müssen eine Lӧsung finden. What do I care, what do we care? Nun ist es wahrscheinlich vernünftig und auch weise, zu denken, daβ wir die Probleme anderer nicht lӧsen kӧnnen, gerade, wenn diese anderen einer Kultur entstammen, die der unseren irgendwie fremd ist. Doch sollte uns das Schicksal dieser Menschen am Herzen liegen, und wir sollten Besorgnis und Sorge zeigen. Denn irgendwo geht es auch uns an. Millionen von Menschen, die in dieser Welt leiden, die Millionen von Flüchtlingen sind für uns vielleicht  nur eine anonyme Masse, abstrakt – doch müssen wir uns in Erinnerung rufen, daβ dies auch Menschen sind. Menschen, die einen Namen tragen, auch, wenn er vielleicht nicht in ein Mahnmal eingraviert ist. Menschen, die anderen Menschen viel bedeuten. Menschen, deren Verlust anderen Schmerzen bereitet und tiefe Wunden zurücklӓβt. Der Verlust jeden Lebens ist unersetzbar. Was verloren ist, kann nicht wiedergefunden werden. Nicht in diesem Fall.

Das heutige Evangelium dreht sich genau darum. Nun ist das Evangelium ja sehr bekannt, es ist das Gleichnis vom verlorenen Schaf. Kennen wir ja schon seit dem Kindergottesdienst. Aber die Rahmenerzӓhlung für dieses Gleichnis ist auch wichtig; hier haben wir Pharisӓer und Schriftgelehrte, gute Menschen, die alles tun, um Gott zu gefallen, und die Gott nahe sein wollen. Nun ist die Gefahr einer solchen Art von Rechtschaffenheit, daβ sie schnell zur Selbstgefӓlligkeit wird. Wenn wir uns darauf konzentrieren, was wir tun, dann verlieren wir schnell andere aus den Augen, oder wir sehen auf andere herab, die nicht so gut oder rechtschaffen oder erfolgreich oder talentiert sind, die, die nicht soviel Selbstdisziplin wie wir haben.

Und die guten religiӧsen Mӓnner im heutigen Evangelium spiegeln das wieder. Jesus, warum treibst du dich mit dem Abschaum herum, mit Sündern, mit denen, die ihren irregegangen sind? Warum iβt du mit ihnen? Wir scheren uns nicht um sie, sie sollen sich zusammenreiβen und selbst helfen – warum schert es dich? Und wir sollten diese Pharisӓer und Schriftgelehrten nicht zu schnell verurteilen – ich denke, wir denken und fühlen oft ӓhnlich. Der Gefӓngnisinsasse, die Obdachlose an der Straβenecke, der undokumentierte Einwanderer, der sich in den Feldern des Central Valley abschuftet: wir kennen diese Menschen nicht, sie bedeuten uns nichts, warum sollten wir uns um sie scheren? Sind diese nicht selbst für ihre Situation verantwortlich? Und warum sollten wir uns gerade um die scheren, die anscheinend alle Hilfe ablehnen, jene, die stur auf dem Irrweg weitergehen und verloren bleiben?

Doch jede Person, die verloren ist, lӓβt eine Lücke zurück, eine Wunde. Jeder ist jemand anderem wichtig. Und nun denken Sie einmal über Gott nach, den liebevollen Schӧpfer aller Kreatur, den Vater und die Mutter aller. Jeder Verlust eines Menschen tut Gott weh. Und so macht Gott sich auf, die zu suchen, die verloren sind. Dies ist der Kern beider Gleichnisse, die wir heute als Teil des Evangeliums hӧrten. Gott ist der gute Hirte, der 99 Schafe in der Wildnis zurücklӓβt, um das eine zu suchen, das sich selbst durch Dummheit in Gefahr gebracht hat. Gott ist die Frau, die unbeirrt nach dem einen verlorenen Silbergroschen sucht.

Und dieses Verhalten ist unerwartet und sogar unvernünftig. Jesus fordert sein Publikum mit der folgenden Frage heraus: “Welcher Mensch ist unter euch, der hundert Schafe hat und, wenn er eins von ihnen verliert, nicht die neunundneunzig in der Wüste lӓβt und geht dem verlorenen nach, bis er’s findet?” Die vernünftige Antwort auf diese Frage wӓre: niemand würde das Wohlbefinden der 99 in Gefahr bringen und nach dem einen suchen. Das macht einfach keinen Sinn. Ein Schaf kann einfach und schnell ersetzt werden. Doch Jesus macht klar: Gott denkt und fühlt anders. Gottes Maβstӓbe sind so anders als die vieler Menschen.

Für Gott ist die Herde ohne das eine Schaf eben nicht komplett. Die anderen Schafe mӧgen sich nicht scheren; die Nachbarn des Hirten mӧgen denken, daβ er verrückt ist, denn was ist ein Schaf schon wert? Doch Gott erkennt den Wert dessen an, das verloren ist. Gott erkennt den Wert dessen an, das wiedergefunden ist. Unsere Herausforderung ist, wie es auch die Herausforderung für die Pharisӓer und Schriftgelehrten in den Tagen Jesu war, jedes Kind Gottes durch die Augen Gottes zu sehen und niemanden je aufzugeben.

Und wir dürfen auch nicht vergessen: Wir sind alle Sünder. Wir alle gehen mal verloren und fühlen uns verloren auf unserem Lebensweg. Genauso, wie wir manchmal nicht unbedingt viel von anderen Menschen halten, so mӧgen wir uns manchmal selbst nicht und haben Selbstzweifel – sind wir etwas wert? Sind wir es wert, geliebt zu werden?  Wie gut ist es da, zu wissen, daβ Gott jeden und jede unter uns als ein geliebtes Kind wertschӓtzt, ob wir nun verloren sind oder wiedergfunden oder beides gleichzeitig. Also freut euch! Denn was auch immer verlorengeht, wird sicherlich von Gott wiedergefunden werden. Dies ist die wunderbare Gnade Gottes. Eine Gnade, die alle Menschen umfӓngt, alle acht Komma nochwas Milliarden – uns alle.