Achtung! Spalt!
Als ich das erste Mal nach London reiste, war ich ein Teenager in den 80er Jahren. Nun ist und war die beste Mӧglichkeit, sich in London fortzubewegen, die U-Bahn, oder ‘the Tube’, wie sie liebevoll in London genannt wird. Und so benutzte ich damals auch die U-Bahn. Ich weiβ nicht, wie es heute ist, aber damals, in den 80ern, wurde man stӓndig von automatisierten Lautsprecheransagen bombadiert. Ich kann mich nicht mehr an alle Warnungen und Befehle erinnern, doch fand dich ‘Stand clear off the doors’ immer witzig – bitte von den Türen fernhalten. Doch mein Lieblingsspruch war und ist noch immer: ‘Mind the gap!’ Und vielleicht deshalb, weil die mӓnnliche Stimme, die uns so vor dem Spalt zwischen Bahnsteig und Zug warnte, einen herrlichen Cockney Akzent hatte: ‘Moind the gӧp!’
Und diese dieser Spalt zwischen Bahnsteig und Zug kann, obwohl er recht schmal ist, schon gefӓhrlich werden – wenn man z.B. mit Stӧckelschuhen umherlӓuft, oder auf einen Gehstock oder Krücken angewiesen ist. Also hat es schon seinen Sinn, ‘Achtung! Spalt!’ zu sagen, so daβ sich niemans verletzt.
Nun habe ich ich mir das Wort ‘Spalt’ einmal genauer angeschaut. Laut dem Duden ist ein Spalt entweder ‘eine offene, leere Stelle; Stelle, an der etwas fehlt (in einem zusammenhängenden Ganzen), durch die etwas unvollständig erscheint’; oder, im übertragenen Sinne, ‘eine hӓufig als unangenehm empfundene Trennung oder eine Differenz zwischen zwei Ansichten oder Situationen ’. Synonyme für das Wort ‘Spalt’ sind Bruch, Spaltung, Riβ, Loch, Graben, Kluft, Mangel, Trennung.
In der Natur kӧnnen Spalten, Grӓben und Klüfte atemberaubend schӧn sein. Denken Sie nur einmal an den Grand Canyon.
Doch wenn wir an menschliche Beziehungen denken, dann erwecken all diese Worte: Bruch, Riβ, Kluft, Graben, Mangel, Trennung – doch eher negative Gefühle. Eine Beziehung zerbricht, ein Liebes- oder Ehepaar trennt sich, es mangelt an Vertrauen, wir erleben Mangel and Nahrung, oder Geld, oder erschwinglichen Wohnungen hier in der Bay Area; vielleicht Mangel an Zuneigung, Mangel an Respekt. Und dann gibt es z.T tiefe Klüfte zwischen Menschen unterschiedlicher Hautfarbe, Religionen und Kulturen; die tiefe und immer tiefer werdende Kluft zwischen arm und reich, sowohl in diesem Lande als auch in der Welt.
Als Menschen sind wir einfach nicht dazu programmiert, Trennungen, Risse und Klüfte als angenehm zu empinden, es sei denn, wir sind Soziopathen oder Psychopathen. Wir sehnen uns nach Frieden, wir sehnen uns nach Verbindung und Einheit – Einigkeit und Recht und Freiheit – und die Generalversammlung der Vereinten Nationen, die in der vergangen Woche in New York City zusammenkam, ist ein Ausdruck dieser Sehnsucht, Einigkeit zu erlangen und zu erfahren – obwohl wir unterschiedlicher Hautfarbe, Kulturen, Sprachen und Geschichte sind. Schlieβlich sind die Vereinten Nationen 1945 gegründet worden, und zwar, um ein schreckliches Blutvergieβen wie in den Jahren des Zweiten Weltkriges durch international Beziehungen, Gesprӓche und Diplomatie zukünftig zu vermeiden. Da gibt es die Einsicht, daβ Trennungen, Zerspaltungen und Klüfte zwischen den Menschen und zwischen den Vӧlkern normalerweise zu Katastrophen und viel Leid führen. Und die Einsicht, daβ wir zusammenarbeiten müssen, ohne zu erwarten, daβ sich unsere Gesprӓchspartner an unsere Vostellungen oder Meinungen anpassen. Mind the gap!
Die heutigen Lesungen drehen sich um eine Kluft, die anscheinend schon immer eine Trennung zwischen Menschen bewirkt hat: die Kluft zwischen arm und reich.
Amos, ein Prophet, der im achten Jahrhundert v.Chr. wirksam war, regte sich mӓchtig über die Reichen im Kӧnigreich Israel auf, die die Armen übervorteilten und nur auf ihren eigenen Gewinn aus waren. In der heutigen Passage aus Amos beschreibt der Prophet mit Verachtung das Lotterleben der Reichen, die sich nicht einen Deut um die Bedürfnisse ihrer Mitbürger scheren. Wehe denen, die in ihrem Reichtum schwellen, ohne davon abzugeben, und nicht erkennen, wie Gott ihr Verhalten verabscheut. Natürlich ist solch ein Verhalten auch nicht gut für die Gesellschaft, doch führt zu weiterer Zertrennung und Entfremdung zwischen den Menschen. Und Zertrennung führt zu Schwachheit, und Schwachheit ist nicht gut, wenn der Feind vor den Toren steht und dabei ist, das Land anzugreifen. In den Tagen Amos waren das die Assyrer, die dann auch tatsӓchlich angriffen, das Kӧnigreich Israel zerstӧrten, und die Reichen und Mӓchtigen ins Exil verschleppten. Mind the gap!
Der Apostel Paulus hat starke Worte bezüglich der Kluft zwischen arm und reich, so wie wir in der heutigen Lesung aus dem 1. Timotheus hӧrten. ‘Denn die reich werden wollen, die fallen in Versuchung und Verstrickung und in viele tӧrichte und schӓdliche Begierden, welche die Menschen versinken lassen Verderben und Verdammnis. Denn Geldgier ist eine Wurzel allen Übels.’
Und erfahren wir dies nicht in unserer heutigen Welt mehr denn je, da das Idol des Mammons, auch unter dem Decknamen ‘die Wirtschaft’ bekannt, über allem verehrt und angebetet wird, und zwar zu dem Grade, daβ die Umwelt schamlos zerstӧrt wird und viele Menschen ausgebeutet werden, gerade in armen Nationen? Und so warnt Paulus die wohlhabenden Mitglieder in der Gemeinde, an die er schreibt, daβ sie nicht am Wohlstand klebenbleiben sollen, sondern ihn zur Ehre Gottes und dem Wohl des Nӓchsten verwenden. Wohlstand ist ein Geschenk Gottes, doch kommt mit diesem Geschenk auch Verantwortung, ihn recht und gerecht zu verwalten. Mind the gap!
Und dann geht es natürlich im heutigen Evangelium, das von Lazarus und dem reichen Mann erzӓhlt, ebenfalls um die groβe Kluft zwischen arm und reich. Und welch eine Kluft dies ist: der reiche Mann sitzt in seinem Haus, Lazarus drauβen vor der Tür. Der reiche Mann ist von kostbaren Gewӓndern umhüllt, Lazarus ist mit Geschwüren übersӓt. Der reiche Mann lebte alle Tage herrlich und in Freuden, Lazarus hungert und sehnt sich nach den Brocken, die vom Tisch des reichen abfallen, und von denen gibt’s wahrscheinlich reichlich.
Dies ist eine tiefe Kluft; und nicht nur zwischen arm und reich, sondern auch zwischen Bruder und Bruder, Kind Gottes und Kind Gottes. Es steht in der Macht des Reichen, eine helfende Hand auszustrecken – und das mosaische Gesetz befiehlt Wohltӓtigkeit, so daβ es ein gewisses Gleichgewicht in der Gesellschaft gibt, Leben in aller Fülle für alle – doch der reiche Mann scheint den armen an seiner Türschwelle noch nicht einmal zu sehen. Er ist so in seiner heilen, komfortablen und privilegierten Welt gefangen, daβ er selig die Not eines Bruders ignoriert.
Und letztendlich ist es nicht nur eine Kluft zwischen Mitmensch und Mitmensch, sondern auch eine Kluft zwischen Mensch und Gott. ‘Denn wer seinen Bruder nicht liebt, den er sieht, wie kann er dann Gott lieben, den er nicht sieht?’, wie es im zweiten Johannesbrief geschrieben steht. Und Martin Luther nimmt diesen Gedanken auf, wenn er sagt: ‘Wer an seinem Nӓchsten vorbeigeht, der geht auch an Gott vorbei.’
Der oder dem Nӓchsten Achtung und Hilfe zu verweigern, Gottes Gesetz der Nӓchstenliebe zu miβachten, heiβt auch, Gott zu miβachten. Wir trennen uns von Gott, wenn wir uns von Gottes geliebten Kindern trennen. Mind the gap!
Der reiche Mann in Jesu Gleichnis bekommt die Konsequenzen dieser Trennung von Gott zu spüren: beide Mӓnner, arm und reich, sterben. Lazarus wird von den Engeln in Abrahams Schoβ getragen, der Reiche endet in der Hӧlle. Und der Reiche kapiert es immer noch nicht: er ist so in seiner Erfahrung von Macht Privileg gefangen, daβ er denkt, er kann immer noch andere herumkommandieren und in seine Dienste nehmen. Das erfordert schon eine gewisse Arroganz, selbst Abraham Befehle geben zu wollen: Schick Lazurus herunter zu mir, so daβ er mir die Zunge mit etwas Wasser kühle! Doch, siehe, die Kluft ist einfach zu groβ, und der reiche Mann weiβ nicht, wie er sie überbrücken kӧnnte. Der Reiche ist immer noch so in seinem Anspruchsdenken gefangen, daβ es ihm nicht einmal einfӓllt, seine Fehler einzugestehen und um Vergebung und Gnade zu bitten.
Zumindest hat er noch einen Fetzen Mitgefühl für seine biologischen Brüder übrig, die noch ein Lotterleben auf Erden führen. Und wieder will er Abraham befehlen, Lazarus zu den Lebenden zurückzusenden, um seine Brüder zu warnen. Doch Jesus macht deutlich: wir haben unserer Chance hier auf Erden, Gottes Wort zu halten, Liebe zu üben und demütig vor unserem Gott zu sein. Gottes Wille ist uns offenbart worden, und wir sehen unseren Nӓchsten in Not tagtӓglich, da gibt es keine Ausflüchte oder Entschuldigungen.
Ja, bis zu dem Tag, an dem das Gottesreich unter uns zur Wirklichkeit wird, wird es immer Spaltungen und Trennungen und Klüfte zwischen den Menschen geben. Doch erwartet Gott von uns, daβ wir diesen Spalte und Spaltungen Achtung schenken, ‘mind the gap’, und nach Versӧhnung und Heilung streben. Das Gottesreich bricht schon jetzt unter uns herein, wo solche Spaltungen überwunden und überbrückt werden, und Menschen sich einander die Hand reichen, um einander zu helfen.
‘Beim Evangelium geht es weniger darum, in das Himmelreich zu kommen nachdem man stirbt, sondern mehr darum, im Himmelreich zu leben bevor man stirbt’, so der amerikanische Philosoph Dallas Willard. Wie wahr! Und im Johannesevengelium spricht Jesus: ‘Ich bin gekommen, damit alle das Leben in Fülle haben sollen.’ Und auch Jesus sagt nicht, daβ dies geschehen wird, nachdem wir sterben, sondern weist auf das Leben im Diesseits hin. Hier und jetzt sollen wir und alle das Leben in aller Fülle haben, und das bedeutet, daβ wir die Fülle, die wir empfangen, miteinander teilen müssen – und nicht daran festhalten, so daβ wir nicht in Versuchung und Verstrickung und in viele tӧrichte und schӓdliche Begierden fallen, welche die Menschen versinken lassen Verderben und Verdammnis.
Gott sandte den eingeborenen Sohn in die Welt, damit die tiefe Kluft zwischen Menschheit und Gott, zwischen Mitmensch und Mitmensch, überwunden werde. Jesus kam in die Welt, zu heilen und Brücken zu bauen, die wir selbst nicht bauen kӧnnen. Jesus kam, uns die groβe Liebe und Vergebung für uns alle zu demonstrieren, auch, wenn wir in unseren heilen und komfortablen und privilegierten Welten leben und versuchen, alle Not irgendwie drauβen vor der Tür zu lassen – aus Furcht, daβ wir irgendetwie nicht genug haben kӧnnten, wenn wir etwas teilen.
Gott schenkt der tiefen Kluft Achtung und Beachtung; und Gott hat sie für uns überbrückt. Doch dies heiβt, daβ wir gleiches mit gleichem vergelten und unser Menschenmӧchliches tun, allen Klüften, die wir in der heutigen Welt erleben, Achtung zu schenken und sie zu überwinden: die Kluft zwischen arm und reich, Schwarz und Weiβ, Christ und Nicht-Christ, Freund und Feind. Nur so erfahren wir alle das Leben in aller Fülle. Nur so leben wir alle schon heute im Himmelreich.