Am vergangenen Wochenende hatte ich zwei Konzerte mit dem Chor, mit dem ich singe, ‘Soli Deo Gloria’. Es war ein tolles Konzert, wir sangen Stücke von Puccini und Beethoven – aber das Stück, das ich immer noch im Ohr und im Herzen habe, ist ein Stück von Ralph Vaughn Williams, dem englischen Komponisten: ‘Toward the Unknown Region’, ‘In das unbekannte Land’. Die Worte zu diesem Stück stammen vom amerikanischen Dichter Walt Whitman. Und diese Worte sind wohl hauptsächlich der Grund, warum mir diese Musik nicht aus dem Kopf geht.

Walt Whitman lebte von 1819-1892. In seiner Dichtung reflektierte er über das Leben mit all seinen Aspekten – und über den Tod. Er durchlebte den amerikanischen Bürgerkrieg – und wurde Zeuge der Gewalt und des Massensterbens. Die Erinnerung and das Sterben der Soldaten – viele unter ihnen waren noch nicht einmal Männer – verfolgte ihn ein Leben lang. Und somit finden wir dann auch das Thema Sterben un Tod in vielen seiner Gedichte, die er nach dem Bürgerkrieg schrieb.

Im Jahre 1868 schrieb ‘Whispers of Heavenly Death’, ‘Das Flüstern des himmlischen Todes’. Dies ist ein Gedicht epischer Länge, und aus diesem Gedicht stammen die Worte, die Vaughn Williams dann vertonte. Der Abschnitt des längeren Gedichtes ist als ‘Darest Thou now, O Soul’ – ‘Wagst du es nun, o Seele’ bekannt. Ich lese diesen Abschnitt hier in einer deutschen Übersetzung von Hans Reisiger:

Wagst du nun, o Seele,

Auszugehen mit mir in das unbekannte Land,

Wo weder Grund für den Fuß ist noch Pfad zu folgen?

Weder Landkarte dort noch Führer,

Noch der Klang einer Stimme, noch die Berührung einer Menschenhand,

Noch ein Gesicht mit blühendem Fleisch, noch Lippen, noch Augen sind in diesem Land.

Ich kenne es nicht, o Seele, –

Noch kennst du es, alles ist leerer Raum vor uns,

Alles wartet, nie erträumt, in diesem Gebiet, in diesem unzugänglichen Land.

Lassen Sie mich hier für einen Moment innehalten. Ich denke, wir spüren alle, daβ Whitman hier eine gewisse Ungewiβheit, vielleicht auch Furcht vor dem unbekannten Land, dem Reich des Todes, ausdrückt. Wagst du es nun, meine Seele, auszugehen mit mir in das unbekannte Land? Was wir nicht kennen, verursacht uns in der Regel Unsicherheit und macht uns auch oft Angst. Der Tod ist eines dieser Geheimnisse, das uns schlucken läβt. Wir wissen, daβ der Tod eine Realität ist – schlieβlich begegnen wir dem Tod tagtäglich – doch wissen wir nicht, was uns da erwartet.

Whitman stellt sich das Reich des Todes, das unbekannte Land, als einen Ort des Nichts und der Verlassenheit vor – als eine Art Vakuum. Nun ist er nicht der erste, der sich den Tod so vorstellt: in den Psalmen des Alten Testamentes begegnet und oft das Wort ‚Sheol‘, was in der Regel mit ‚Unterwelt‘ übersetzt wird. Doch ist ‚Sheol‘ ein Ort der Isolation, ein Ort, an dem es weder Mitmenschen noch Gott gibt – es ist ein Ort des absoluten Nichts. Und so haben wir all die Bitten in den Psalmen, o Gott, errette mich doch von der ‚Sheol‘, erhalte mich am Leben und unter den Lebendigen. Da gibt es Furcht vor dem, was der Tod mit sich bringt.

Jesus ist gegen diese Furcht nicht immun. Im heutigen Evangelium befindet sich Jesus in Jerusalem – laut dem Johannesevangelium zum dritten und letzten Mal. Er ist eben erst in die Stadt unter Hosianna Rufen eingezogen – und dessen werden wir am nächsten Sonntag, Palmsonntag, gedenken – und die Menschen sind ganz begeistert, ihn zu sehen. Da gibt es Griechen, die zum Passahfest angereist sind und Jesus kennenlernen wollen. Doch Jesus weiβ, was ihm bevorsteht. Am Ende einer irdischen Reise erwarten ihn das Kreuz und der Tod. Und Jesus teilt als Mensch unsere menschliche Furcht vor dem Tod. Wir hören ihn sagen: „Jetzt ist meine Seele betrübt.“ Und wir horen hier ein Echo der Frage Whitmans, ‚Wagst dus es nun, meine Seele?‘ ‚Jetzt ist meine Seele betrübt. Und was soll ich sagen? Vater, hilf mir aus dieser Stunde?‘ Und nicht nur hier, sondern auch später, im Garten Gethsemane, kurz vor seiner Verhaftung, wird Jesus beten, daβ dieser Kelch doch an ihm vorbeigehe. Und am Kreuz, in dem Moment, wo er den Schritt in das unbekannte Land des Todes tut, ruft er verzweifelt aus: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“

Ich weiβ nicht, wie es Ihnen damit geht, doch ich finde es tröstlich, daβ selbst Jesus diese Momente hat, in denen er das Unausweichliche am liebsten vermeiden möchte; daβ Jesus ganz genau weiβ, daβ der Tod eine wahrhaftige und schreckliche Macht ist. Whitman erlebte den Tod im amerikanischen Bürgerkrieg; wir erleben den Tod in unseren Schulen und Strassen, in Paketen vor unserer Haustür, unter neu konstruierten Fuβgängerbrücken – an Orten, wo der Tod eigentlich nichts zu suchen hat. Jesus weiβ, daβ der Tod viel Leid mit sich bringt – nicht nur für die Sterbenden, sondern auch für die, die zurückbleiben und trauern. Jesus kennt das Gefühl des Verlusts, und eben die Furcht, die wir als Menschen haben, wenn wir über den Tod nachdenken oder uns dem Tod nähern – diesem Land, in dem es weder den Klang einer Stimme gibt, noch die Berührung einer Menschenhand.

Die Seele Jesu ist betrübt, und zu Recht. Doch gleichzeitig hat Jesus Worte des Trostes und der Zuversicht, die über die Furcht, die den Tod umgibt, hinausreichen: Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und erstrirbt, bleibt es allein; wenn es aber erstirbt, bringt es viel Frucht.

Jesus weiβ, daβ das neue Leben im Herzen des Todes begraben liegt. Alles ändert sich ständig in dieser Welt, da gibt es ständig Transformation, und ohne diesen Wandel gäbe es keinen Wachstum, keine Entwicklung, kein neues Leben. Wir mögen herausgefunden haben, was passiert, wenn ein Samenkorn in die Erde gelegt wird – wie seine Zellen sich teilen, wie es somit wächst und endlich durch die Oberfläche bricht, und sich dann der Sonne entgegenstreckt, um dann neuen Samen und neues Leben hervorzubringen. Wir können das alles wissenschaftlich erklären – aber letztlich ist es doch ein Wunder, das wir nur bestaunen können. Da ist immer noch das Geheimnis, das dem Tod des Samenkorns und seiner Verwandlung in eine lebensspendende Pflanze umgibt.

Wir müssen und dürfen vertrauen, daβ Gott nicht nur die Macht hat, ein einzelnes Samenkorn in eine Ähre zu verwandeln, oder eine Sonnenblume oder einen Apfelbaum oder einen gewaltigen Redwood Baum, eine Raupe in einen Schmetterling, eine Kaulquappe in einen Frosch – sondern auch unser Leben durch das Geheimnis unseres Todes in etwas, das wir uns nicht einmal in unseren kühnsten Träumen vorstellen können: ein neues Leben, das ewige Leben, ein Leben, das wir in der Gegenwart Gottes und in der Gemeinschaft mit allem, was Atem und eine Seele hat, verbringen werden. Daβ das unbekannte Land des Todes lediglich ein begrenzter Stop auf unserer Reise zu unserem Ziel sein wird.

Jesus Christus muβte einen grauenvollen Tod sterben und in und durch das unbekannte Land reisen, doch am Ende brach er aus dem Tod hervor und öffnete so allen die Tür zu einem neuen Leben. In Jesu Tod und Auferstehung erkennen wir die Macht Gottes, die Macht der Liebe, die Macht des Lebens.

Den Weg, den wir demnächst gehen werden – vom Palmsonntag über Gründonnerstag und Karfreitag, bevor wir dann am leeren Grab am Ostermorgen stehen – erinnert uns daran, daβ es immer noch die Mächte des Todes gibt, die uns in dieser Welt binden – Mächte, denen selbst der Sohn Gottes nicht entkommen konnte. Doch darüber hinaus gibt es die Befreiung von diesen Mächten. Und das geschieht eben nicht nur in dem, was wir das Leben nach dem Tode nennen, sondern schon hier und jetzt: wir sind befreit durch die Gnade und Vergebung Gottes, und zwar dazu befreit, aus dieser Gnade zu leben und sie mit der Welt zu teilen. So bringen wir die Frucht, von der Christus spricht. Neues Leben beginnt schon hier und jetzt – es ist im Herzen aller Dinge begraben. Der Wandel, den Gott für uns vorsieht, hat an dem Tag angefangen, an dem wir getauft wurden – und dieser Wandel wird auch über unser Sterben hinaus weitergehen.

Walt Whitman mag eine etwas unkonventionelle Einstellung zu Religion und Spiritualität gehabt haben, doch wuβte auch er um die transformativen und befreienden Mächte, die unser Leben und Sterben tranzendieren. Whitman schloβ sein Gedicht ‚Wagst du es nun, o Seele‘ nicht mit hoffnungslosen Worten, doch mit Worten, die hoffnungsvoll und zuversichtlich sind. Lassen Sie mich zum Abschluβ das gesamte Gedicht lesen:

Wagst du nun, o Seele,

Auszugehen mit mir in das unbekannte Land,

Wo weder Grund für den Fuß ist noch Pfad zu folgen?

Weder Landkarte dort noch Führer,

Noch der Klang einer Stimme, noch die Berührung einer Menschenhand,

Noch ein Gesicht mit blühendem Fleisch, noch Lippen, noch Augen sind in diesem Land.

Ich kenne es nicht, o Seele, –

Noch kennst du es, alles ist leerer Raum vor uns,

Alles wartet, nie erträumt, in diesem Gebiet, in diesem unzugänglichen Land.

 

Bis wenn die Fesseln sich lösen,

Alle, außer den ewigen Fesseln Zeit und Raum,

Wenn weder Finsternis, Schwerkraft, Sinne noch irgendwelche Bande uns binden.

Dann stürmen wir vor, dann fluten wir

In Raum und Zeit, o Seele, bereitet für sie, Ihresgleichen, ausgerüstet endlich (o Freude! o Frucht alles Seins!), sie zu erfüllen, o Seele!

Möge Gott uns diese Erfüllung durch Tod und das ewige Leben, das schon hier und jetzt beginnt, bringen.

 

Walt Whitman (1819–1892), Geflüster vom himmlischen Tode (1868)

Nachdichtung: Hans Reisiger (Diogenes Verlag, 1985)

 

Foto von Ian Espinoza via unsplash.com

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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