Predigt zu Lukas 10, 25-37; Siebter Sonntag nach Trinitatis – 10. Juli 2016

dallas

 

Da dachte ich, ich hӓtte eine bedeutungsschwere Predigt. Schon Mittwoch hatte ich eine Predigt fertig, übersetzt und ausgedruckt. Und dann kam der Donnerstag, und an jenem Tag sahen wir neue und verstӧrende Videos, die die Erschieβungen von schwarzen Mӓnnern durch U.S. Polizeibeamte zeigten, und das wegen minderer Vergehen; wir sahen Berichte von Protesten im ganzen Lande; und wir wurden Zeugen der Attacken gegen Polizeibeamte in Dallas, bei denen fünf Offiziere getӧtet und sieben weitere verletzt wurden. Auf einmal schien meine zuvor geschriebene Predigt nicht mehr soviel Bedeutung zu haben – also noch einmal von vorne.

 

Ich bin wieder einmal zutiefst geschockt, wütend, und traurig – all diese Tode sind so sinnlos. Und ich bin verstӧrt aufgrund des Antagonismus in diesem Lande. Da steht dann ‘Black Lives Matter’ gegen ‘Blue Lives Matter’, da wird das Leben der schwarzen Bevӧlkerung gegen das Leben von Polizeibeamten gestellt, als müsse man doch eine der beiden Seiten beziehen.

 

Als ich noch in der East Bay war, war ich für eine Weile auch Polizeiseelsorgerin für das Pleasant Hill Police Department. Ich lernte die Beamten und Beamtinnen kennen, und ich erfuhr viel über ihre Erfahrungen, ihren Idealismus, ihre Leidenschaft für den Beruf, und ihre Ängste. Und ich habe schwarze Mitbürger getroffen, die weitaus mehr Widerstӓnde in ihrem Leben überwinden muβten aufgrund von Rassismus als ihre weiβen Brüder und Schwestern. Ich sehe sie alle als meine Nӓchsten an. Wie kӧnnte ich da eine Seite beziehen?

 

Was mich auch traurig macht: daβ all diese schrecklichen Dinge passierten, nachdem wir gerade erst hier in den VEREINIGTEN Staaten von Amerika Independence Day gefeiert haben. Alle Bürger standen stolz unter der U.S. Flagge, schauten sich Feuerwerke an, und gedachten dessen, das gut in und an diesem Land ist. Wir hӧrten die inoffizielle Nationalhymne der USA, ‘America the beautiful’, mit ihren visionӓren Worten: ‘America, America, God shed his grace on thee, and crown thy good with brotherhood from sea to shining sea.’

 

Dies ist die Vision, dies ist das Ideal, das hier in diesem Land angestrebt wird: allen Freiheit und Gerechtigkeit zu gewӓhren, ‘liberty and justice for all’, und alle zu einem Volk als Schwestern und Brüder zu verbinden, egal, woher sie kommen oder was auch immer ihr Hintergrund ist. Und doch scheint es soviel Miβtrauen und gar Feindseligkeit zu geben, und das Unvermӧgen, jene, die irgendwie anders sind als wir, als die anzuerkennen, die Gott, der Schӧpfer aller, uns als Brüder und Schwestern anvertraut hat.

 

Wer ist mein Nӓchster?

 

Ein Schriftgelehrter stellt Jesus die Frage nach dem wichtigsten Gebot. Jesus antwortet: ‘Liebe Gott, und liebe deinen Nӓchsten wie dich selbst.’ Worauf der Schriftgelehrte entgegnet: ‘Und wer ist mein Nӓchster?’ Und diese Entgegenung setzt voraus, daβ es unmӧglich ist, alle zu lieben, und das wir das Feld irgendwie einschrӓnken müssen. Jesus, sag mir doch bitte, wen ich lieben muβ, und wen ich verachten oder ignorieren kann.

 

Ach, und wӓre es nicht schӧn, wenn Jesus darauf eine klare und einfache Antwort hӓtte und die Menschheit sauber in schwarz und weiβ, mӓnnlich und weiblich, wahre Glӓubige und Unglӓubige, Demokraten und Republikaner einteilen würde. Aber da gibt es keine einfache Antwort.

 

Bei einer anderen Gelegenheit sagt Jesus: Liebet eure Feinde – für jeden ist es einfach, die zu lieben, die ihm nahestehen, sogar die Heiden – das ist nichts besonderes. Was uns zu wahren Nachfolgern des Gottes der Liebe und des Gottes des Lebens macht, ist, über alles, was uns trennt, hinwegzulieben.

 

Das heutige Evangelium unterstreicht dieses radikale Konzept. Wer ist mein Nӓchster? Der Samariter natürlich, derjenige, der sich erbarmte und Mitleid hatte. Heutzutage feiern wir den Samariter als den Helden der Geschichte, und preisen ihn als ein Beispiel christlicher Nӓchstenliebe. Doch war diese Geschichte zu Zeiten Jesu ein Skandal.

 

Die Geschichte der Juden und Samariter ist sehr kompliziert, doch vereinfacht gesagt waren diese zwei Vӧlker verfeindet – obwohl die Juden als auch die Samariter von den 12 Stӓmmen Israels abstammten und das mosaische Gesetz befolgten. Ein Jude in samaritanischem Territorium wurde verachtet und muβte womӧglich um seine Sicherheit fürchten, und das galt auch andersrum. Stellen Sie sich nur einmal vor, Jesus würde die Geschichte heute erzӓhlen, nur würde in diesem Falle ein Palӓstinenser einem Juden helfen. Die Geschichte ist also ziemlich gewagt.

 

Und übrigens ist auch gerade erst so eine Samaritergeschichte bekannt und in den Medien verbreitet worden: da sind in Texas Gefangene aus einer Zelle augebrochen – um einem Wӓrter zu helfen, der einen Herzinfarkt hatte. Die Gefangenen wuβten sehr wohl daβ sie sich in Gefahr begaben – denn weitere Wӓrter hӓtten sie Situation sehr wohl miβverstehen und auf die Ausbrecher schieβen kӧnnen – und doch wuβten sie, daβ es wichtig war, das Richtige zu tun. Dies ist eine Geschichte, wie Jesus sie hӓtte erzӓhlen kӧnnen, denn sie unterstreicht das Unerwartete: daβ scheinbare Gegner zu Nӓchsten werden.

 

 

Jesus fordert den Schriftgelehrten – und auch uns heute – heraus, Brüderlichkeit und Schwesterlichkeit, und Nachbarschaft, als etwas zu verstehen, das über Stammeszugehӧrigkeit oder Glaubenszugehӧrigkeit hinausgeht. Jesus betont die Menschlichkeit, die wir alle als die teilen, die im Bilde Gottes geschaffen sind. Jesus betont die Fӓhigkeit, dem Barmherzigkeit zu erweisen, der in Not ist, egal, wer er ist. Jesus betont die Fӓhigkeit, über die Grenzen, die wir schaffen, hinwegzusehen und die Menschlichkeit und Würde eines anderen anzuerkennen. Jesus stellt unser Konzept des ‘anderen’ in Frage, indem er diesen anderen zu unserem Nӓchsten erklӓrt.

 

Auch wird die Frage, wer mein Nӓchster ist, nicht mit dem Hilfebedürftigen beantwortet – obwohl wir die Geschichte oft so verstehen. Wer ist mein Nӓchster? Der, der Hilfe braucht. Nein, der Nӓchste ist der, der Erbarmen zeigte, und der Schriftgelehrte wird aufgefordert, hinzugehen und desgleichen zu tun. Der Schriftgelehrte wird dazu aufgefordert, selbst ein Nӓchster zu SEIN, jemand, der nicht als arrogant oder überheblich daherkommt, sondern sich wirklich anstrengt, jemand anderes zu verstehen. Mit ihm zu gehen. Ihm zuzuhӧren. Es scheint, daβ wir nur dann fӓhig sind, jemanden als unseren Nӓchsten anzuerkennen, wenn wir uns selbst wie Nӓchste verhalten. Nur dann erkennen wir wirklich ihre Nӧte – und was sie nӧtig haben. Nur dann sind wir wahren Erbarmens fӓhig – und nicht nur eines gӧnnerhaften Mitleids.

 

So lieben wir – indem wir uns anstrengen.

 

Natürlich ist dies heute genauso der Welt entgegengesetzt, wie es zu Jesu Zeiten war. Die Ereignisse dieser vergangegen Woche hier in den USA, und die gewaltsamen und schrecklichen Ereignisse in aller Welt beweisen, daβwir nich weit davon entfernt sind, einander Nӓchste zu sein. Da gibt es Antagonismus und Polarisierung, und so einige der Führer in dieser Welt profitieren davon.

 

Glaube ich an den Teufel?  Nicht an den Mann mit dem Ziegenfuβ und den Hӧrnern, doch glaube ich an satanische Mӓchte, die es in der Welt gibt. Ich habe es schon mal erwӓhnt: das hebrӓische Wort ‘Satan’ bedeutet wӧrtlich übersetzt ‘Versucher’. Und ja, das gibt es die Mӓchte, die uns in Versuchung führen, Mauern und Grenzen zu errrichten, obwohl und Gott gebietet, einander zu lieben und Versӧhnung mir denen zu suchen, die wir als ‘anders’ verstehen.

 

Das soll nicht so sein, liebe Brüder und Schwestern! Wir erfahren doch immer wieder, wie Nachbarschaften und Gesellschaften dadurch zerstӧrt werden, wenn wir es zulassen, dazu verführt zu werden, jemandem die Menschlichkeit zu verweigern – sei es durch Haβ oder Gleichgültigkeit. Wir müssen es lernen, Nӓchste zu sein, wir müssen es lernen, unseren Nӓchsten zu lieben, wer sie auch sind, wenn wir wirklich eine Verӓnderung in diesem Lande und dieser Welt sehen wollen.

 

Jemand, der diese Art Liebe vorlebte, war Martin Luther King Jr. Ich weiβ, ist in den letzten Tagen viel zitiert worden, doch klingen seine Worte immer noch so wahr wir in den 60er Jahren: ‘Wir müssen lernen, als Brüder zusammenzuleben, oder als Narren untergehen.’

 

Er sagte auch: ‘Dunkelheit kann die Dunkelheit nicht vertreiben; nur das Licht kann dies. Haβ kann den Haβ nicht vertreiben; nur die Liebe kann dies.’

 

Liebe Gott. Liebe deinen Nӓchsten wie dich selbst.

 

Liebe ist nicht nu rein romantisches und naives, unrealistisches Ideal. Wenn Christi Leben und Sterben uns eines gezeigt haben, so ist dies, daβ Lieben schwer ist. Liebe ist leidenschaftlich. Liebe ist aktiv. Liebe überwindet alles – sogar den Tod.

 

Diese Art der Liebe wird von Gott im Übermaβ in unsere Herzen gegossen, und sie muβ einfach in die Welt überflieβen; dort Trost zu bringen, wo Menschen trauern. Dort zu heilen, wo Menschen leiden. Dort für Gerechtigkeit zu wirken, wo Schwestern und Brüder benachteiligt oder gar diskriminiert werden. Dort Versӧhnung zu schaffen, wo Menschen voneinander getrennt sind. Neues Leben zu fӧrdern, auch im Angesicht des Todes. Diese Liebe hilft uns, einander wahrlich Nӓchste zu werden. So helfe uns Gott.