Predigt zu Markus 10, 46-52; Reformationssonntag – 25. Oktober 2015

healing of blind

 

Amazing grace, how sweet the sound – das kennen Sie doch alle, oder?  Versuchen wir doch mal, den ersten Vers gemeinsam zu sprechen. Amazing grace, how sweet the sound that saved a wretch like me; I once was lost, but now am found, was blind, but now I see.

Dieses Lied ist wohl eines der bekanntesten geistlichen Lieder in der Welt, wenn nicht sogar das bekannteste. Und dieser erste Vers, den wir gerade gesprochen haben, ist vielleicht der wichtigste Vers, den man auswendig können sollte. Denn dieser Vers faßt zusammen, was wir als Christen der lutherischen Konfession glauben.

Das heißt keineswegs, daß Lutheraner die einzigen Christen sind, die an Gottes Gnade glauben – diese erstaunliche Gnade Gottes, die allein die Macht hat, uns zu erretten. Doch Martin Luther, der Vater der Kirche, die wir lutherisch nennen, machte die für ihn überwältigende Entdeckung im 16. Jahrhundert: es ist durch die Gnade, und zwar durch die Gnade allein, und den Glauben an die errettende Macht Jesu Christi, daß wir Erlösung finden. Und erstaunlicherweise ist diese Gnade ein freies Geschenk. Diese Entdeckung Luthers ist das Herzstück der Reformation.

Luther hätte wahrscheinlich das Lied ‘Amazing Grace’ lauthals und mit Innbrunst mitgesungen, hätte dieses Lied schon im 16. Jahrhundert  existiert. I once was lost, by now I’m found, was blind, but now I see. Einst war ich verloren, doch nun bin ich gefunden – war blind, doch jetzt sehe ich.

Martin Luther wuchs in einer sehr frommen christlichen Gesellschaft auf.  Damals gab es im Westen nur eine große Kirche, die römisch-katholische Kirche, und ihr Haupt war der Papst in Rom. Dies waren sehr fromme Zeiten; Glaube und Kirche durchdrangen das gesamte Leben der Menschen mit all seinen Aspekten. Es gab keine Sekularwelt neben der geistlichen Welt, so wie wir es von heute kennen. Nun war aber das Leben der Gläubigen in Luthers Zeiten aber nicht ganz orthodox oder rein; nein, da gab es Aberglauben und Folklore, und Mißverständnisse über die Lehren der Kirche. Glaube war also ein bißchen ein Kuddelmuddel. Und dieses Kuddelmuddel wurde dann auch von Kirchenführern dazu ausgenutzt, Geld von den Gläubigen zu erlangen. Gnade war damals nicht frei, sondern mußte sich häufig teuer erkauft werden, z.B. durch Ablaßbriefe. Martin Luther wuchs also in und mit diesem Kuddelmuddel auf. Und so glaubte auch Luther lange Zeit, daß Gottes Gnade nicht frei ist, sondern durch gute Taten und Rituale erworben werden muß.

Luther wurde ein Mönch, weil er Angst vor Gott hatte; und er glaubte, daß das Mönchsleben ihm genügend Wohlgefallen bei Gott erwerben könnte.  Denn waren Mönche nicht besonders fromme Leute? Doch stellte Luther sehr schnell fest: es ist nie genug. Egal, wie innbrünstig er betete, egal, wie genau er die Regeln und Rituale befolgte, egal, wie sehr er sich anstrengte – er hatte immer noch das Gefühl, daß er viel zu sündig war, um je Gottes Gnade erfahren zu können.

Luther entdeckte erst nach Jahren des Studiums der Evangelien und seiner Zeit als Professor der Theologie: Gottes Gnade ist ein Geschenk! Gottes Gnade ist frei. Wir als Menschen könnnen nichts dazu tun, sie zu erfahren. Es geht nicht darum, was wir für Gott tun können – es geht darum, was Gott bereits für uns getan hat.  Gott wurde Mensch und starb für uns am Kreuz. Wenn wir noch etwas dazuntun könnten, wäre Christi Tod vergeblich gewesen.

Diese Erkenntnis veränderte Luther und sein Leben gewaltig. Zum ersten Mal spürte er, daß seine Augen geöffnet wurden, und daß er wahrlich sah – anstatt blind einer mißinterpretierten und mißverstandenen Doktrin zu folgen.

‘Twas grace that taught my heart to fear, and grace my fear relieved – how precious did this grace appear the hour I first believed.’ Es war Gnade, die mein Herz die Furcht gelehrt hat, und Gnade hat meine Furcht erleichtert – wir kostbar ist diese Gnade erschienen in der Stunde, in der ich zuerst glaubte.

Luthers Erkenntnis und Erfahrung der Gnade Gottes führte ihn dazu, daß er sich mit der Kirche in Rom anlegte und es zu dem kam, was wir die Reformation nennen. Und wenn Sie mehr dazu erfahren wollen, sprechen Sie mich nach dem Gottesdienst an, leider habe ich jetzt nicht genug Zeit, um wirklich ins Detail zu gehen. Und übrigens hat auch die römisch-kaholische Kirche in den letzten Jahren ganz klar ausgedrückt, daß es allein um die Gnade Gottes geht. Nichts, was wir tun, kann uns Gottes Gnade erwerben. Also stimmen Katholiken und Lutheraner heute in der Gnadenlehre überein. Da gibt es noch ein paar andere Dinge, wo wir uns nicht einig sind, doch im wesentlichen sind wir uns sehr ähnlich und sehr nahe. Also geht es beim Reformationssonntag auch nicht darum, die Vergangenheit zu verherrlichen, in der Luther sich eigenhändig mit der katholischen Kirche anlegte, doch ist der Reformationstag ein Tag, an dem wir das feiern und uns auf das zu konzentrieren, was uns verbindet: nämlich Jesus Christus.

Die heutige Lesung aus dem Evangelium ist sehr faszinierend. Oberflӓchlich gesehen haben wir hier eine der vielen Heilungsgeschichten. Ein Mensch mit einem Gebrechen, in diesem Falle ein Blinder, kommt zu Jesus, bittet um Heilung, und Jesus gewӓhrt dies mit den Worten: “Dein Glaube hat dich geheilt.”

Matthӓus, Lukas und Johannes erwӓhnen diese Heilung ebenfalls.  Aber bei Markus gibt es einen wesentlichen Unterschied: in jenen drei Evangelien bleibt der Mann anynom, doch bei Markus hat er einen Namen: Bartimӓus. Der Blinde hat einen Namen.  Dies ist eine persӧnliche Angelegenheit. Und ich komme gleich noch einmal auf diesen Namen zurück.

Diese Heilung ist bei Markus auch in anderer Hinsicht etwas besonderes. Dies ist die letzte Heilung, die Jesus vor seinem Einzug in Jerusalem und der Kreuzigung vollbringt. Und: Bartimӓus spricht Jesus als ‘Sohn Davids’ an. Wir mӧgen uns da nicht viel bei denken, doch ist ‘Sohn Davids’ ein messianischer Titel. Der Blinde ist ironischerweise derjenige, der Jesus als den erkennt, der er ist –der Messias – und er ist der einzige, der dies ӧffentlich ausspricht und verkündigt. Zwar hat Petrus schon einmal bekannt, daβ Jesus der Messias und der Sohn Gottes ist, aber das war nur unter den Jüngern. Und Petrus kapiert das ganze auch nicht so recht, aber davon ein andernmal.

Bartimӓus sieht, er erkennt, wer Jesus ist – der Messias, der Sohn Davids, der Sohn Gottes. Nun zum Namen Bartimӓus. Jeder Name hat schlieβlich eine Bedeutung. ‘Bartimӓus’ ist ein eigenartig zusammengesetzter Name, aus dem Aramӓischen, der Sprache Jesu, und griechisch. ‘Bar’ bedeutet ‘Sohn des’, also haben wir hier den Sohn des Timӓus. Aber was bedeutet ‘Timӓus’? Selbst Bibelforscher wissen das nicht so genau. Es ist wahrscheinlich, daβ wir hier eine grieschische Form eines aramӓischen Wortes haben, das ‘unrein’ oder ‘korrupt’ bedeutet. Bartimӓus wӓre so der ‘Sohn des Unreinen’. Würden Sie gerne solch einen Namen haben?

Aber für die Menschen in den Tagen Jesu machte solch ein Name Sinn: jede Behinderung, gerade von Kindesbeinen an, wurde als eine Folge von den Sünden der Vorvӓter verstanden. Erbsünde, kennen wir ja auch als Konzept. Die Blindheit des Bartimӓus wӓre also als eine Konsequenz der spirituellen Blindheit, oder Unreinheit, oder Sünde seines Vaters verstanden worden.

Und nicht nur das: es wurde angenommen, daβ eine kӧrperliche Behinderung auch eine geistige oder geistliche Behinderung symbolisierte – eine blinde Person wurde also auch als blind im spirituellen Sinne angesehen. Um es grob zu sagen: blind und ignorant. Nun hӓtten die Menschen zu Jesu Zeiten zu einem solchen Menschen wohl gesagt: Pech gehabt, irgendwie fӓllst Du aus Gottes Wohlgefallen heraus; irgend ein Vorfahre hat etwas schreckliches getan, so daβ du so wurdest – es ist Gottes Wille, und da kann man nichts machen, also finde dich damit ab.

Aber wir lernen zwei Dinge über Bartimӓus. Erstens ist er keineswegs ignorant, keineswegs blind im übrtragenen Sinne, sondern sieht sehr klar, wer Jesus ist. Und wir sehen auch, daβ er in Gottes Gnade vertraut – Gottes Barmherzigkeit, die ihn von seiner Blindheit befreien und ihn heil machen kann. Bartimӓus verdient die Jesu Zuwendung und die Gnade Gottes nicht – aber sie werden ihm doch gewӓhrt. Ihm wird ein neues Leben geschenkt.  Und was macht er mit diesem Neuanfang? Er lӓβt seinen Mantel und seine alte Existenz zurück und folgt Jesus nach. Bartimӓus versteht sehr wohl, daβ er das Geschenk des Sehens, der Gnade und des neuen Lebens nicht einfach verschwenden darf, sondern es zur Ehre Gottes und im Dienst am Nӓchsten benutzen muβ.

Wenn das keine Reformation ist! Nun sind wir alle hier, Gott sei Dank, nicht mit Blindheit geschlagen. Auch, wenn einige hier ohne Brillen oder Kontaktlinsen kann schӧn trübe aus der Suppe schauen würden, so wie ich, oder dank heute mӧglicher Operationen den grauen oder grünen Star losgeworden sind. Aber ich nehme mal an, daβ wir alle uns dessen bewuβt sind, daβ wir manchmal ganz schӧn blind, ganz schӧn ignorant sein kӧnnen. Blind gegenüber Leiden und Ungerechtigkeit in dieser Welt, blind gegenüber den Bedürfnissen unseres Nӓchsten, blind den Wegweisern gegenüber, die Gott uns auf unserem Lebensweg schickt, blind den Realitӓten gegenüber, die sich um uns herum entwickeln, wӓhrend wir den guten alten Zeiten nachtrauern. Die frohe Botschaft in alledem ist: es gibt immer Hoffnung. Gott sendet den Heiligen Geist, immer wieder, damit wir besser sehen und erkennen mӧgen. Und die sogar noch frohere Botschaft ist: Gott liebt uns und schenkt uns seine wunderbaren Gnade, obwohl wir manchmal blind und ignorant sind.

Doch, wie das heutige Evangelium und die Gechichte Martin Luthers zeigen, hat Klarsicht seine Folgen. Wir haben die gottgegegebene Verantwortung, unseren Glauben auch zu leben, aus der Gnade heraus, und stetig und stӓndig für eine Reformation von Kirche und Gesellschaft zu wirken, so daβ Gottes Reich, das von Liebe und Gerechtigkeit geprӓgt ist, schon hier erkannt wird.

Denn dies ist das Endziel: mit Gott und der gesamten Kreatur in Gottes Reich versӧhnt zu werden und versӧhnt zu leben, von Ewigkeit zu Ewigkeit. Wir fangen heute schon damt an, auf dieses Ziel hinzuleben, und haben Hoffnung auf die Erfüllung dieser Vision, wie sie so schӧn im letzten Vers von “Amazing Grace” beschrieben wird:

When we’ve been there ten thousand years, bright shining like the sun; we’ve no less days to sing God’s praise then when we’d first begun.