Am letzten Dienstag gedachten wir des Weltflüchtlingstages. Dieser Tag wird jedes Jahr am 20. Juni begangen und ist dazu gedacht, daβ wir uns der Situation von Flüchtlingen in aller Welt mehr bewuβt werden. Derzeit gibt es ca. 65 Millionen Menschen auf diesem Planeten, die ihre Heimat aufgrund von Krieg, Konflikten oder Umweltkatastrophen, wie z.B. anhaltender Dürre, verlassen muβten. Wie Sie sich vielleicht vorstellen kӧnnen, ist die Mehrheit dieser Flüchtlinge Kinder.

 

65 Millionen – das ist ungefӓhr ein Sechstel der Bevӧlkerung der USA. 65 Millionen, das mag zwar weniger als 1% der derzeitigen Weltbevӧlkerung sein, aber stellen Sie sich einmal vor, allein alle Bewohner Kaliforniens – das sind ca. 40 Millionen – müβten auf einmal alles zurücklassen und woandershin fliehen. Es ist schon unvorstellbar, sich diese Zahl von Menschen vorzustellen, die derzeit keine feste Heimat haben.

 

Die christliche Organisation ‚Brot für die Welt‘ verӧffentlichte zum diesjӓhrigen Weltflüchtlingstag den folgenden Gedanken: ‚Manche lassen ihr ganzes Leben zurück. Um es zu behalten.‘

 

Manche lassen ihr ganzes Leben zurück, um es zu behalten. Man verlӓβt nicht so einfach sein Haus, seine Gemeinschaft, manchmal sogar seine Familie. Dies ist nicht eine leichtfertige Entscheidung; fast immer ist eine Flucht von Furcht um Freiheit, Leib und Leben motiviert. Man muβ schon zwingende Gründe haben, um sein ganzes Leben zurückzulassen.

 

Nun ist uns dies ja nicht fremd. Einige unter ihnen muβten wӓhrend des 2. Weltkrieges oder danach alles zurücklassen; zumindest kennen wir alle Menschen, die fliehen muβten. Wir kennen Menschen, die dem sozialistischen System in der DDR entflohen. Wir mӧgen Menschen aus anderen Teilen der Welt kennen, die ihr Heimatland wegen Krieges oder anderer Konflikte verlassen muβten.

 

Aber dann kennen wir als Christen auch eine Reihe von Geschichten aus der Bibel, die von Menschen erzӓhlen, die ihr Leben zurücklassen müssen; angefangen mit Kain, der fliehen muβ, nachdem er seinen Bruder Abel ermordet, über die Urvӓter und Urmütter, die stӓndig auf der Suche nach einem Ort waren, an dem die überleben konnten, über das Volk Israel, das Ägypten im Exodus verlӓβt, bis hin zu den Bewohnern der Kӧnigreiche von Israel und Juda, die ins Exil gehen müssen, als ihre Lӓnder von den Groβmӓchten ihrer Zeit besiegt und besetzt werden. Auch Jeremia, dessen Worte wir in der heutigen alttestamentlichen Lesung hӧrten, war unter denen, die das Kӧnigreich Juda verlassen muβten, nachdem die Babylonier es erobert hatten. Jeremias Spuren verlieren sich irgendwo in der Wüste auf dem Weg nach Ägypten.

 

Die heilige Familie mit dem Kleinkind Jesus muβ nach Ägypten vor der mӧrderischen Machtgier Kӧnig Herodes‘ fliehen. Wir sind als mit der harschen Realitӓt vertraut, daβ Menschen fliehen und Asyl suchen müssen. Und wir ahnen, daβ die Geschichte des Volkes Gottes die Geschichte von Menschen auf dem Weg ist, Menschen, die ihr ganzes Leben zurücklassen, um es zu behalten.

 

Dies wird auch im heutigen Evangelium deutlich, welches eines jener Evangelien ist, das eher schwierig ist und uns herausfordert. Hier spricht Jesus zu den Jüngern, seinen Anhӓngern, über Anfechtungen und Bedrohungen, über Furcht, über die Spaltung von Familien, darüber, daβ wir dazu berufen sind, unser Kreuz aufzunehmen und es zu tragen. Dies sind nicht Worte, die uns Frieden und Wohlstand versprechen, sondern Worte, die die rauhe Realitӓt dieser Welt widerspiegeln: daβ Menschen, wenn sie sich zu Christus bekennen, wenn sie auf den Wegen der Gerechtigkeit und der Gnade und der radikalen Liebe für den Nӓchsten wandeln, auf Widerstand stoβen. Und dies führt womӧglich zu einem unruhigen und unbequemen Leben.

 

Und in diesem Zusammenhang hӧren wir die Worte Jesu: “Wer sein Leben findet, der wird’s verlieren; und wer sein Leben verliert um meinetwillen, der wird’s finden.” Wenn wir diese Worte hӧren, so denken wir vielleicht zunӓchst einmal an den leiblichen Tod, an all die zahllosen Martyrer, besonders in der Urchristenheit, die Jesus durch Folter und Tod nachfolgten. Vielleicht denken wir and Menschen wie Dietrich Bonhoeffer, die sterben muβten, weil sie Gott mehr gehorchten als den Menschen und sich für die Unterdrückten und Verfolgten einsetzten.

 

Aber dann wissen wir auch, daβ jene, die ganz wӧrtlich für Christus und ihren Glauben starben, nur einen winzigen Bruchteil aller Christen ausmachen. Wir ahnen also, daβ Jesu Worte über den Verlust des Lebens – so wie auch die Worte des Apostels Paulus, der immer wieder davon spricht, daβ wir in Christus sterben müssen, so daβ wir mit ihm und in ihm auferstehen kӧnnen – auch eine eher allegorischen Bedeutung haben, die uns alle betrifft. Wir alle sind dazu berufen, unser ganzes Leben zurückzulassen, um es zu behalten.  

 

Manche müssen ihr ganzes Leben zurücklassen. Um es zu behalten. Nun ist für manche der Verlust eines Lebens ein Lebensretter. Ich erinnere mich an eine Geschichte, die ein Kollege aus den Staat Washington erzӓhlte, über eine junge Frau aus China, die, ihrer Familie zufolge, unter einem Fluch geboren war. Ihre Familie behandelte sie, als wӓre sie eine Dӓmonin, mit viel Haβ und offener Ablehnung. Ihre Mutter hӧrte nicht auf, ihrer Tochter zu sagen, wie sehr sie sich wünschte, daβ sie doch sterben mӧge – so ist es nicht überaschend, daβ diese junge Frau mehrer Male drauf und dran war, sich das Leben zu nehmen.

 

Irgendwie gelang die junge Chinesin nach den USA und besuchte die Gemeinde, in der oben genannter Kollege Pastor war. Sie nahm Taufunterricht, und als sie schlieβlich getauft wurde, brach sie zusammen und heulte. Als mein Kollege sie fragte, warum, sagte sie: ‚Sie verstehen nicht – als Sie gerade sagten, daβ ich in Christus gestorben bin, verstand ich auf einmal, daβ ich mich nicht umbringen muβ. Ich bin gerade gestorben – und sehe nun ein neues Leben und eine neue Chance vor mir.“

 

Diese Geschichte hat wirklich einen Eindruck auf mich gemacht. Und auch wenn die meisten unter uns bereits als Kleinkinder in den Wassern der taufe starben und wiederauferstanden und Taufe nicht als eine ganz konkrete Lebensretterin erfahren haben, so wie diese junge Frau, so gibt es doch folgende Realitӓt: wir sterben dem Alten, so daβ wir dem Neuen leben kӧnnen. Diese Realitӓt entfaltet sich dann, da wir aufwachsen und unseren Glauben leben. Tagtӓglich sind wir dazu herausgefordert, die Erneuerung des Lebens zu erstreben, und zwar nicht nur für uns selbst, sondern alles, was Gott erschaffen hat. Wann immer Christus über das Reich Gottes spricht, dann geht’s nicht um meine persӧnliche Errettung und meinen Platz im Himmel, sondern um die Gemeinschaft der Heiligen.

 

Christus spricht zur Gemeinschaft, wenn er sagt: “Wer sein Leben findet, der wird’s verlieren; und wer sein Leben verliert um meinetwillen, der wird’s finden.” Die Lutherübersetzung ist hier ein biβchen ungenau, wӧrtlich wӓre es: „Alle die, die ihr Leben finden, werden’s verlieren; und alle die, die ihr Leben verlieren um meinetwillen, werden’s finden.“ Da geht’s also um die Transformation, die Verwandlung der Gemeinschaft; darum, wie wir miteinander leben, und entweder zerstӧren oder Leben bewahren.

 

Wir alle sind uns dessen bewuβt, daβ wir individuell und als Gesellschaft dazu versucht sind, zunӓchst einmal unseren eigenen Vorteil zu suchen. Das Herzstück der Sünde, unserer Sünde, ist, daβ wir in uns selbst verkrümmt sind, wie Martin Luther es so schӧn ausdrückt. Wir starren auf den eigenen Nabel und verlieren alle anderen aus den Augen. Warum sollten wir uns um das Leben und die Wohlfahrt anderer scheren?

 

Aber wenn wir das tun, wenn wir nur auf unseren eigenen Nabel starren, dann verlieren wir unser Herz und unsere Seele – individuell und als Gemeinschaften. Wir werden zu einer Gesellschaft, in dem wir sozialen Darwinismus als wahres Glaubensbekenntnis haben, aber nicht die Liebe und Gnade Gottes. Wir werden zu einer Gesellschaft, in der es um das nackte Überleben geht, aber nicht um die Fülle des Lebens, die Gott allen verspricht.

 

Aber dies ist nicht, was Gott für seine geliebte Kreatur vorsieht. Jesus spricht in seinen Gleichnissen vom Himmelreich über Parties, über geteilte Freude, über Tische, die mit genug Essen für alle beladen sind, über Heil und Heilung aller, über Leben in Fülle für alle, und ganz besonders für die Geringsten unter uns. Diese Visison wird zu unserer Vision. So folgen wir Christus wahrlich nach, indem wir unser Ego aufgeben und das Leben – unser Leben – mit anderen teilen.

 

Manche müssen ihr ganzes Leben zurücklassen. Um es zu behalten. Wir mӧgen keine Flüchtlinge sein. Doch als das Volk Gottes sind wir in dieser Welt nur auf der Durchreise. Wir sind auf dem Weg mit Christus, dazu berufen, ihm nachzufolgen, dazu berufen, unstet zu sein. Wir sind dazu berufen, die Geschichte Gottes zu leben, welche eine Geschichte von Menschen in Bewegung ist, Menschen, die ihr Leben zurücklassen, um ihr Leben uns das Leben anderer zu bewahren. Und nicht nur das: auch, um ein neues Leben zu finden. Ein Leben, das Erfüllung bringt. Ein Leben in aller Fülle.