Was kann aus Nazareth Gutes kommen?
Im heutigen Evangelium stellt Nathanael skeptisch diese Frage, als sein Freund Philippus ihm ganz aufgeregt von Jesus erzӓhlt, der womöglich der ist, dessen Kommen von den Propheten vorhergesagt worden ist: der Erlöser, der Messias. Es scheint, als hatte Nazareth damals nicht den besten Ruf, zumindest nicht unter Leuten wie Nathanael, die aus dem kultivierten und gebildeten Küstengebiet kamen und auf die, wie es ihnen schien, zurückgebliebenen Leute aus dem palӓstinischen Hochlandes um Nazareth herabblickten und so ihre Vorurteile über diese Stadt hatten.
Was kann Gutes aus…kommen?
Geben wir es doch zu: wir alle haben so unsere Vorurteile, sei es über Orte oder auch gewisse Menschengruppen. Dabei fӓngt’s bei uns allen ganz hoffnungsvoll an: wir kommen in diese Welt, wunderbar geschaffen, wie es im heutigen Psalm so wunderschön heiβt, ganz frisch und unbelastet, wir erforschen diese Welt mit Begeisterung und haben diese wunderbare kindliche Neugierde. Doch dann passiert da etwas, wenn wir aufwachsen. Wir lernen und machen Erfahrungen, wir lernen es, Situationen einzuschӓtzen und zu beurteilen. Und das ist gut so, denn sonst brӓchten wir uns stӓndig in Gefahr.
Doch gleichzeitig nehmen wir auch alles Mögliche, das uns unsere Eltern, Groβeltern, Lehrer oder auch die Medien erzӓhlen, recht kritiklos auf, Dinge, die wir gar nicht selber erfahren haben. Und manchmal ist das gut, aber dann manchmal auch gar nicht so gut, denn da gibt es Gerüchte, Unwahrheiten oder Halbwahrheiten, die uns beigebracht werden, und die stecken dann irgendwann als Vorurteile in unserem Gehirn fest. In das Viertel gehen wir nicht! Ich möchte nicht, daβ du mit diesem Kind spielst. Die Familie scheint nett zu sein, aber ich habe da Dinge gehört…
Auf die eine oder andere Art sind wir alle damit aufgewachsen.
Dann passiert es auch manchmal, daβ wir ganz unterbewuβt Vorurteile bilden. Ich möchte Ihnen dazu ein Beispiel geben: Ich erinnere mich nicht daran, daβ mir ausdrücklich wӓhrend meiner Kindheit gesagt wurde, daβ dunkelhӓutige Menschen zu fürchten oder schlechter sind als Weiβe.
Aber dann gab es da dieses Spiel, das wir als Kinder gerne auf der Straβe spielten, und vielleicht kennen Sie es ja auch: Wer hat Angst vor’m schwarzen Mann? Wer kennt’s? ‚Wer hat Angst vor’m schwarzen Mann?‘ ‘Niemand!’ ‘Und wenn er kommt?’ ‘Dann laufen wir!’
Der Nikolaus hat ja manchmal einen Gefӓhrten, sei es Knecht Ruprecht, der Krampass, oder der ‚Swate Piet‘, der Schwarze Peter – eine eher furchterregende Figur, denn er straft die ungehorsamen Kinder. Und je nach Region ist diese Figur dann auch als schwarz dargestellt.
Und dann ein Wort über den ‚Struwwelpeter‘, ein Buch, das ich als Kind noch fasziniert gelesen habe, aber eher mit der Art Faszination, mit der man einen Horrorfilm anschaut. Da werden Erziehungsmethoden des 19. Jh. angewandt: man will Kinder dadurch zu moralischen Wesen erziehen, indem man ihnen vor Augen hӓlt, was einem passieren kann, wenn man sich nicht so verhӓlt, wie es von einem erwartet wird. Und das führt in den Geschichten des ‚Struwwelpeters‘ inder Regel zu Schaden oder gar Tod. Nur als Nebenbemerkung, der Untertitel der frühen Ausgaben des Struwwelpeters war ‚Lustige Geschichten und drollige Bilder‘.
Im Struwwelpeter gibt es eine Geschichte ‚Von den schwarzen Buben‘, eine Geschichte, die oberflӓchlich zu Toleranz aufruft, aber es doch in sich hat. Vielleicht erinnern Sie sich: da machen sie drei weiβhӓutige Jungen über ein schwarzes Kind lustig. Und dann kommt da der Nikolaus und bestraft die drei Jungs, indem er sie in ein Tintenfaβ steckt, so daβ sie noch schwӓrzer als das Kind sind, das sie gehӓnselt oder gemobbt haben, wie man heute sagen würde. Schwarz zu sein ist also eine Strafe, so nahm es mein kindliches Hirn unterbewuβt auf. Schwarze Menschen sind minderwertig. Schwarze Menschen sind anders und fremd. Schwarze Menschen machen Angst.
Damals hatte ich noch nie einen dunkelhӓutigen Menschen getroffen, und doch hatte ich bereits Vorurteile gegen Schwarze, und es brauchte seine Zeit – und das Kennenlernen von afrikanischen und afro-amerikanischen Menschen – um diese Vorurteile zu überwinden. Zumindest konnte ich bereits als Teenager lautstark protestieren, als meine geliebte Oma mal bei einer Familienfeier sagte: ‚Komm mir ja nie mit einem Schwarzen an!‘ Wie bitte? Was, um Himmels willen, hast du gegen Schwarze?
Nun muβ ich Ihnen nicht erzӓhlen, daβ in diesem Lande weite Teile der Bevölkerung entmenschlicht wurden – und auch immer noch entmenschlicht werden. Denn da gibt es irgendwie diese fixe Idee, daβ irgendwie dunkelhӓutige Menschen minderwertig sind, daβ sie intellektuell irgendwie unterentwickelt sin dim Vergleich zu weiβen Menschen. Und es macht mich besonders traurig und auch wütend, wenn die Bibel dazu miβbraucht wird, solche Annahmen zu unterstützen.
Genetiker haben herausgefunden, daβ alles menschliche Leben in Afrika seinen Ursprung hat. Wie alle haben eine gemeinsame Vorfahrin – sie wird als ‚mitochondrische Eva‘ bezeichnet – und die Menschen, die von ihr abstammen, sehen nur alle unterschiedlich aus, weil sie sich an ihre jeweiligen Lebensrӓume angepaβt haben. Wo die Sonne weniger scheint, braucht man z.B. keine dunkle Haut. Alles menschliche Leben ist wunderbar von Gottes Hand gemacht, und liebevoll im Mutterleib gebildet.
Martin Luther King Jr., dessen Geburtstages wir morgen gedenken, hat hart für Rassengerechtigkeit gekӓmpft und dafür mit seiner Freiheit und spӓter auch mit seinem Leben bezahlt. Er sprach zu allen Menschen von einem Traum, dem Traum, daβ eines Tages Menschen nach ihrem Charakter anstelle ihrer Hautfarbe beurteilt werden. Mehr als 50 Jahre spӓter sind wir da zwar weitergekommen, doch gibt es noch viel zu tun, bevor dieser Traum verwirklicht ist.
Was kann aus…Syrien Gutes kommen? Aus Haiti? Aus Iran? Mexico, Libyen, Nordkorea? Auf der anderen Seite gibt es viele in diesem Lande und in der Welt die derzeit so ihre Zweifel haben, daβ irgendetwas Gutes aus Washington kommen kann.
Wie an jedem Ort auf diesem Planeten gibt es Gutes und Böses an jenen Orten. Gutes Vorhaben ist oft von Sünde begleitet, wie wir so schön in unserem Kirchenjargon sagen. Als Menschen sind wir nie ganz uneigennützig. Nun sind einige Orte korrupter als andere, manche Orte sind gewalttӓtiger als andere. Doch können wir nicht ein ganzes Volk für die Sünden einiger verurteilen. Als Deutsche wissen wir ja auch, wie das ist, wenn man mit Nazis über einen Kamm geschoren wird.
Wir dürfen nicht eine ganze Menschengruppe entmenschlichen, nur, weil es da welche gibt, die menschen- und lebensverachtende Ideologien haben – und danach handeln. Wir können nicht einfach tatenlos zusehen, wenn die, die in ihren Heimatlӓndern unter Naturkatastrophen und Gewalt, manchmal tödlicher Gewalt, leiden, ihrem Leiden zu entkommen versuchen – und keinen Lebensraum in dieser Welt finden.
Wie ich bereits sagte, kann Gutes und Böses aus allen Orten kommen. Wir tun uns damit keinen Gefallen, wenn wir einfach alle ausschlieβen, die aus einer verdӓchtigen Region stammen. Wenn Nathanael auf seinem Vorurteil über Nazareth bestanden hӓtte, dann hӓtte er die unmittelbare Gegenwart Gottes in seinem Leben verpaβt. Er hӓtte es verpaβt, Zeuge des Reiches Gottes zu werden, das in Jesus Christus in diese Welt hineinbrach – Jesus Christus, der Grenzen übertrat und Mauern zwischen den Menschen einriβ, der ohne Maβen liebte, der heilte und den Menschen dabei half, die Gegenwart Gottes in jedem wunderbar geschaffenen Menschen zu erkennen – denn was ihr dem Geringsten getan habt, das habt ihr mir getan – und der durch seinen Tod und seine Auferstehung das Tor zu einem neuen Leben für alle öffnete.
Wenn wir auf unseren Vorurteilen beharrten, so würden wir es verpassen, Gottes Gegenwart in allen zu erkennen, mit denen wir eine gemeinsame Urmutter und unseren himmlischen Schöpfer teilen – unsere Nӓchsten. Wir würden es verpassen, das Reich Gottes zu erleben, wie es hier und jetzt unter uns hereinbricht, nӓmlich da, wo wir Zeuge dessen werden, wie Menschen mit trotziger Hoffnung versuchen, in der Liebe und Gnade und Vergebung füreinander zu wachsen. Wir würden es verpassen, die wunderbare Gegenwart Christi zu erIeben, so, wie sie im Leib Christi, der Kirche, mit seinen unterschiedlichen Teilen, Gaben und Aufgaben ihren Ausdruck findet.
Und zum Abschluβ noch ein Gedanke: Was kann aus…uns Gutes kommen? Böses kann überall her kommen, und Gutes kann überall her kommen. Dies schlieβt den Menschen, das menschliche Herz, mit ein. Martin Luther prӓgte dafür einen besonderen Ausdruck: wir sind gleichzeitig gerecht und sündig. Wir alle.
Nathanael, der arrogante Skeptiker, folgt dann doch Jesus nach und wird der Legende nach nach Jesu Tod und Auferstehung zu einem Apostel der Botschaft Christi, der es vielleicht gar nach Indien schaffte. Samuel, der Junge, der Gottes Ruf in der Nacht hörte, wird zu einem der prominentesten spirituellen, politischen und militӓrischen Führer Israels; er ist der letzte der sogenannten Richter, und hilft dann dem Volk dabei, einen König zu krönen. Obwohl Samuel seine Schwӓchen hat, so gelingt es ihm doch mit Gottes Hilfe, Gottes Willen zu tun.
Martin Luther King, Jr. war auch nicht vollkommen und hatte seine Fehler, so wie jeder Mensch. Doch war es Gott möglich, auch diesen Menschen dazu zu benutzen, um den Traum vom Reich Gottes, einen Traum, den wir schon in den alttestamentlichen Propheten finden, einem Traum von Gerechtigkeit und Geschwisterlichkeit unter allen Menschen, zu verbreiten und dadurch das Herz vieler Menschen zu verwandeln.
In der Geschichte hat es viele gegeben, die, obwohl sie ihre Fehler hatten, doch ihren Glauben und ihre Hoffnung dazu nutzten, um radikal zu lieben, zu helfen, zu heilen, für Gerechtigkeit und Frieden zu kӓmpfen, und diese Welt ein biβchen besser zu machen – und damit ihre Umwelt einen Blick auf die Vision des Reiches Gottes erhaschen zu lassen.
Und nun sind wir hier: mit unseren selbstsüchtigen Begierden und unserer Unvollkommenheit, doch wunderbar gemacht, von Gott geliebt und umfaβt, dazu ermutigt und auch dazu herausgefordert, Gott unsere unvollkommene Existenz gebrauchen zu lassen und Gottes liebende Gegenwart in dieser Welt zu sein: Grenzen zu überschreiten und Mauern zu unseren Brüdern und Schwestern einzureiβen, und das Leben zu fördern. Dies ist der Traum Gottes für alle Kreatur, der von Propheten an allen Orten und zu allen Zeiten getrӓumt worden ist. Lassen Sie uns diesen Traum weitertrӓumen, lassen Sie ihn uns gemeinsam trӓumen – und mit Gottes hilfe alles menschenmögliche tun, diesen Traum zu verwirklichen.