Ich möchte Sie heute auf eine Zeitreise nach Jerusalem ca. 30 n. Chr. entführen.  Diese Stadt ist eine der Perlen des Orients mit ihrem imposanten Tempel auf der höchsten Erhebung. Es ist eine typischen Stadt des Orients: Menschen verschiedener Hautfarben und Kulturen gehen hier ein und aus, Strassenhändler bieten lauthals ihre Waren an, Hausfrauen feilschen im Bazar. Es gibt zahlreiche Bettler, die am Wegesrand sitzen, Kinder und Hunde streunen in den Strassen und Gassen. Dies ist das Zentrum des Judentums; hier leben die religiösen Führer, die Hohenpriester, die Rabbiner, die Gelehrten des mosaischen Gesetzes. Jesrusalem ist die Stadt, in der Gott wohnt, im Allerheiligsten des Tempels, fernab von den Blicken der Normalbürger hinter einem Vorhang versteckt – und Gott suchte sich diese Stadt, diesen Tempel bereits vor mehr als 1.000 Jahren als seine Wohnstatt aus.

 

Jerusalem ist selbst zu den Zeiten Jesu bereits eine imposante Stadt, mit 80.000 Einwohnern; es ist eine Stadt, in der nicht jeder jeden kennt, eine Stadt mit dunklen Ecken, geheimen Gängen und vielen Versteckmöglichkeiten – eine Stadt, in der es leicht ist, eine Verschwörung zu planen. Für den Aussenseiter ist Jerusalem ein Ort, der verdächtig und merkwürdig ist. Das gibt es die Anhänger jenen Kultes, in dem nur ein Gott verehrt wird, und diese Anhänger sind recht fanatisch. Da wird nicht nur stur dieser eine Gott angebetet, sondern wird auch das gesamte Leben von heiligen Schriften bestimmt, selbst die mundänen Dinge. Die Lebensweise des jüdische Volkes wird als rückständig und unterlegen im Vergleich zu der höchst zivilisierten, organisierten und gelehrten Kultur der Römer betrachtet.

 

Jerusalem und das jüdische Volk waren den Römern ein Dorn im Auge. So mancher römische Bürokrat, der aus der Gnade des Kaisers gefallen war, wurde in diese gottverdammte Stadt strafversetzt. Hier gab es viele gewalttätige Aufstände. Das jüdische Volk nahm keineswegs römische Kultur und Lebensart so problemlos an, wie es viele andere unterworfene und ‘unzivilisierte’ Völker im Mittelmeerraum getan hatten. Am liebsten hätten die Römer Jerusalem und seine fanatischen Bewohner einfach aufgegeben. Doch war diese Stadt einfach strategisch zu wichtig, da sie im Schnittpunkt mehrerer Militär- und Handelsstrassen sass, da, wo Europa, Afrika und Asien aufeinandertreffen.  Nicht die besten Soldaten wurden hierher entsandt, sondern die, die man am ehesten entbehren konnte; oft waren dies die brutalsten und undiszipliniertesten Soldaten.

 

Wenn Sie damals dagewesen wären, ca. 30 n. Chr., dann hätten Sie die Spannung gespürt, die brodelt, als die Parade in die Stadt einzieht. Und nein, es ist nicht die Parade, derer wir traditionell am Palmsonntag gedenken. Dies ist eine Parade, die alljährlich kurz vor dem Passahfest stattfindet. Es gibt Schätzungen, daβ zu diesem Fest zwischen 100.000 und 250.000 Besucher in die Stadt strömten, um dieses heiligste der Feste der Juden zu feiern – ein Fest, bei dem des Auszuges aus Ägyptens gedacht wird, des Abwerfen eines politischen und militärischen Jochs, des Entkommens aus der Sklaverei. Können Sie sich vorstellen, was das für eine Spannung schuf, da die Juden Freiheit feierten, aber gleichzeitig von den Römern unterdrückt wurden? Da brodelte es wirklich, da gab es leidenschaftliche Gefühle unter den Juden; und die Mischung von sturer Verehrung des einen Gottes, nationalistischer Stolz und die Sehnsucht nach Freiheit waren eine ganz explosive Mischung.

 

Mehfach hatte es Aufstände während des Passahfestes gegeben, recht unorganisierte Mobs griffen römische Bürger, Bürokraten, Soldaten und auch jüdische Sympathisanten der Römer an. Nur wenige Jahre vor Jesu Einzug in Jerusalem hatte Rom solch einen Aufstand mit einer Massenkreuzigung von 2.000 Menschen vergolten – Männer, Frauen und Kinder, viele von ihnen unschuldig. Eben um ein Exemple zu setzen und vor weiteren Aufständen abzuschrecken.

 

Also zog Rom jedes Jahr vor dem Passahfest seine militärischen Einheiten zusammen. Viele Legionen, die im Nahen Osten stationiert waren, wurden nach Jerusalem berufen. Und diese Legionen zogen dann gesammelt in einer gewaltigen Parade in Jerusalem ein, scheinbar endlose Reihen von gut organisierten Soldaten in glänzender Rüstung, die Kohortenführer auf ihren Schlachtrössern oder in eleganten Streiwagen. Und allen voran Pontius Pilatus, der Prokurator, auf seinem imposanten Pferd, in voller Rüstung. Dies war eine forsche Demonstration militärischer Überlegenheit, die von allen Römern und jenen, die mit den Römern sympathisierten, bejubelt wurde – doch all denen verhaβt war, die unter der Bsatzungsmacht litten.

 

Wie jede Militärparade in der Geschichte der Menschheit war diese dazu gedacht, Stärke und Überlegenheit zur Schau zu stellen und damit zu protzen – aber gleichzeitig war sie auch dazu gedacht, Andersdenkende einzuschüchtern, sie zu entmutigen und ihnen Furcht einzuflöβen. Und im Fall des römischen Einzugs in Jerusalem waren die Andersdenkenden die Anhänger des jüdischen Glaubens, die ja nicht denken sollten, die Feierlichkeiten einer vergangenen Befreiung dazu zu nutzen, das Joch erneut abzuwerfen.

 

Wir wissen nicht, ob Jesu Einzug in Jerusalem etwas früher oder später als oder vielleicht auch gleichzeitig  mit der römischen Militärparade stattfand. Es passierte auf jeden Fall ungefähr zur selben Zeit. Und dies war eine absolute Gegendemonstration: kamen die Römer durch das Haupttor im Westen eingezogen, vorbei am herrlichen Palast des Herodes und all den Gebäuden, die weltliche Macht repräsentierten, so kam Jesus aus dem Osten, auf einem Esel, durch ein sehr viel kleineres Tor, das das ‘Goldene Tor’ genannt wurde und direkt in das Tempelareal führte. Hier wird die weltliche Macht des römischen Reiches dem Reich Gottes entegegengesetzt. Was für ein Kontrast! Doch auch: wie provokativ!

 

Ein Theologe bemerkt dazu: Der Einzug Jesu auf einem Esel ist nicht der demütige Angriff eines demütigen Königs. Es ist ein Angriff! Gott, der lange abwesend war, kommt erneut in den Tempel und bedeutet damit die Vergebung der Sünde Israels, das Ende des Exils, Erneuerung und Wiederherstellung.

 

Und ich denke, Jesu Einzug als Angriff zu sehen ist durchaus angebracht. Aber lassen Sie uns einen genaueren Blick auf diesen Angriff, diese Attacke, werfen. Wen oder was greift Jesus an? Und wie greift er an?

 

Ganz offensichtlich gilt dieser Angriff den Römern, ihrer brutalen Gewalt und ihrem Anspruch, die politsche Macht zu sein, die der Welt allein Freiheit und Zivilisation bringt – dieser Angriff gilt auch dem Konzept der ‘Pax Romana’, dem ‘Römischen Frieden’, den die Römer nur durch Gewalt, militärische Gewalt und Unterdrückung gründen und erhalten können.

 

Doch scheint es auch, daβ Jesus ganz gezielt in den Tempelbereich einzieht und auch hier einen Angriff vornimmt: einen Angriff auf eine recht versteinerte Auffassung von Religion und Glaube; ein Glaube, in dem Gott nicht lebendig und lebensspendend ist, sondern sich hinter Gesetzen und Regelungen verbirgt. Ein Glaube, der Gott nicht durch Taten der Barmherzigkeit und Gerechtigkeit repräsentiert. Ein Glaube, der sich fürchtet, gegen die Mächte dieser Welt aufzubegehren und der zu selbstzufrieden geworden ist.

 

Und ich denke, daβ dieser Angriff Jesu gilt nicht nur seinen Zeitgenossen, sondern auch uns heute. Jesus stellt durch seinen Einzug in das Heiligste unsere Auffassung von Gott, Macht, und einem gottgefälligen Leben in Frage. Leben wir wirklich diesem Gott, der die ganze Welt liebevoll erschaffen hat und erhält, dem Gott der Gnade, dem Gott der Liebe, dem Gott des Friedens, dem Gott, der immer wieder sagt: Fürchtet euch nicht? Es hat schon seinen Grund, warum Jesus immer wieder sagt, daβ ihm folgen bedeutet, daβ wir sterben müssen; denn irgendwie leben wir insgesamt ja doch ein recht bequemes Leben und vermeiden Leiden und Unannehmlichkeiten. Wir müssen in dem Sinne sterben, daβ wir unser eigennütziges Leben aufgeben, damit wir zu einem Leben für andere auferweckt werden können.

 

Und wie greift Jesus an? Ganz bestimmt nicht in dem Sinne, wie seine Zeitgenossen es erwarteten. Sie kannten die Prophezeiung aus dem Buch Sacharja, die wir heute ja auch gehört haben: dass der Messias auf einem Esel nach Jerusalem kommen werde und letztlich und endlich Freiden bringen würde – doch nicht, bevor er seine Gegner mir militärischer Gewalt überwindet. Es scheint, als hätten Jesu Zeitgenossen sehnsüchtig auf einen Messias gewartet, der die Römer endlich aus dem Lande jagen wird. Es scheint so, als erwarteten die, die da ‘Hosianna’ riefen – und das schlieβt Jesu Jünger mit ein – daβ Jesus genau diesselbe Gewalt gebrauchen würde, die die Römer ausübten, eine Gewalt, die sie doch verachteten. Doch Jesus greift auf unerwartete Art und Weise an: ohne jegliche physische Gewalt. Doch auch ohne solche Gewalt deckt er all das auf, was verzerrt und verdorben ist, all das, was die Menschen von der Liebe Gottes trennt.

 

Und wie so viele, die in dieser Welt gewaltlos für Frieden und Gerechtigkeit gekämpft haben, so machte auch Jesu gewaltloser Angriff die Mächtigen nervös, machte ihnen vielleicht gar Angst. Wie oft ist es nicht in der Menscheitsgeschichte vorgekommen, daβ die, die lediglich physische und militӓrische Macht haben, sich vor der Macht der Ideen, der Ideale und der Liebe fürchten und alles vesuchen, diese Mӓchte gewaltsam zu unterdrücken? Denken Sie da nur an den Prager Frühling oder Tiananmen Platz.

 

Warum, denken Sie, veröffentlichete die NRA, die National Rifle Association, Plakate und Anzeigen mit dem bedrohlichen Bild einer AR 15, – derselben Waffe, mit der 17 Menschen, darunter viele Schüler, in Parkland, Florida, ermordet wurden – als tausende von Schülern in diesem Land nach vernünftigeren Waffengesetzen verlangten? Ich habe so den Verdacht, dass es die Angst vor diesen gewaltlosen doch hartnäckigen Demonstrationen ist, die ja vielleicht doch Erfolg haben könnten. Die NRA kennt da kein anderes Gegenmittel als Bedrohung und Demonstration rauer Gewalt.

 

Jesu gewaltloser Angriff jedenfalls versetzte seine Gegner in Angst – und sie fürchteten ihn so sehr, daβ sie ihn töteten.

 

Jesu Leiden und Tod waren nicht das Ende der Geschichte, wie wir alle wissen. Er starb. Und dann erstand er wieder auf. Er starb und erstand für alle jene in dieser Welt, die miβbraucht, ausgenutzt und erniedrigt werden. Er starb und erstand für alle, die leiden. Er starb und erstand für all jene, die um ihres Wirkens um Frieden und Gerechtigekit willen bedroht und unterdrückt werden. Er starb und erstand für all jene, über die man sich lustig macht in dieser Welt, da sie ihr Leben lieber in den Dienst anderer stellen, als daβ sie nach Geld und Macht streben. Er starb und erstand für all jene, die sich nach Gott sehnen.

 

Und wir sehen Jesus Christus auch heute noch wirksam in dieser Welt, 2.000 Jahre später. Jesus Christus wirkt auch heute noch durch all die, die die Korruption der Welt angreifen – gewaltlos, doch mit Macht – so wie z.B. gestern, als hundertausende in diesem Lande und weltweit während des ‘Walk for our Lives’ auf die Strasse gingen, um für vernünftigere Waffengesetze zu demonstrieren – darunter viele Leiter von Glaubensgemeinschaften und andere Gläubige (ja, und auch ich habe demonstriert). Wir sehen, wie Jesus auch heute durch jene angreift, die, oft anonym, Frieden stiften, sich für Gerechtigkeit einsetzen und Kommunen aufbauen. Wir erleben, wie Christus auch heute noch durch alle die angreift, die sich für jemanden einsetzen, die nicht mit der Menschenwürde und dem Respekt behandelt werden, die sie verdienen.

 

Und Jesus Christus greift auch uns immer wieder an: indem er in das Tor des Tempels unserer Herzen einzieht, liebevoll, mächtig, voller Gnade. Dabei fordert eruns dazu heraus, ihm auf seinen Wegen nachzufolgen; auf Wegen, die zu vom Tod ins Leben führen. Auf Wegen, die zu einem neuen Leben führen, einem Leben, das wir in Gott, aus Gott und für Gott führen, ein Leben, das wir dahingeben für andere.