Wie Sie alle wissen, haben wir kirchliche Feiertage und auch eher weltliche Feiertage, und manchmal gibt es da Konkurrenz. Heute gedenken wir der Himmelfahrt Christi – der Himmelfahrtstag war zwar schon am vergangenen Donnerstag, doch da wir donnerstags keine Gottesdienste feiern, machen wir das eben heute. Doch was wird heute in der breiten Gesellschaft gefeiert? Der Muttertag natürlich – ein Tag, an dem wir dankbar an mütterliche Liebe erinnern.

Wenn Sie am vergangenen Sonntag hier waren, dann wissen Sie, dass wir hier eine Taufe gefeiert haben; und da ging es in der Predigt um Liebe, genauer gesagt die Liebe Gottes und die Nӓchstenliebe. Und vielleicht erinnern Sie sich daran, wie ich sagte, dass Liebe oft anstrengend ist. Asl Beispiel nannte ich die recht schwieige Beziehung zu meiner Tochter, als sie noch ein Teenager war. Das war damals gar nicht so einfach für uns, einander zu lieben. Diese Liebe war ein hartes Stück Arbeit. Und doch liebte ich meine Tochter, denn, wie sie mir selbst sagte, ich musste sie lieben – das ist meine Aufgabe als Mutter.

Natürlich habe ich im Laufe meines Lebens oft über meine Rolle als Mutter nachgedacht, und über mütterliche Liebe – und habe mich nicht nur als Kindermӓdchen und Versorgerin verstanden, sondern vor allem als Lehrerin und Mentorin. Und dies verlangt unter Umstӓnden auch liebevolle Strenge. Es bedeutet, meine Kinder auch herauszufordern, ihnen nicht alles durchgehen zu lassen. Es kommt schlieβlich nicht darauf an, dass meine Kinder mich stӓndig mögen, sondern darauf, dass sie zu verantwortungsvollen Menschen herangezogen werden. Irgendwann verlassen die Kinder das Nest, und dann müssen sie auf das Leben da draussen vorbereitet sein, weitgehend ohne die konstante Hilfe ihrer Eltern. Und, wie wir alle wissen, ist das Leben nicht immer so einfach.

Einer der Taufpaten am vergangenen Sonntag las eine Passage aus ‘Der Prophet’ von Khalil Gibran, ‚Von den Kindern‘. Es war leider etwas schwer zu verstehen – ich möchte gerne noch einmal ein paar Zeilen daraus lesen.

‚Eure Kinder sind nicht eure Kinder. Sie sind die Söhne und die Töchter der Sehnsucht des Lebens nach sich selber.

Sie kommen durch euch, aber nicht von euch, und obwohl sie mit euch sind, gehören sie euch doch nicht.

Ihr seid die Bogen, von denen eure Kinder als lebende Pfeile ausgeschickt werden.

Der Schütze sieht das Ziel auf dem Pfad der Unendlichkeit, und er spannt euch mit seiner Macht, damit seine Pfeile schnell und weit fliegen.‘

Was Gibran mit seinen Worten ausdrückt, ist, dass Kinder – unsere Kinder – in die Welt hinausgehen müssen, um das zu erreichen, was wir nicht erreichen können oder auch vielleicht nicht erreichen sollen. Jede Generation hat ihre eigenen Herausforderungen – und ihre eigenen Wege, mit ihnen umzugehen. Unsere Aufgabe ist es, unsere Kinder aufzuziehen, sie zu lieben, und sie auf das Leben vorzubereiten, soweit wir das eben können.

Ich hoffe, dass Ihre Eltern Sie so aufgezogen und auf das Leben vorbereitet haben. Und ich hoffe, dass Ihre Mutter – oder die Person, die Sie mit mütterlicher Liebe grossgezogen hat – Sie immer wieder herausgefordert hat, Neues zu lernen und zu entdecken, und Sie zu dem Menschen gemacht hat, der Sie heute sind. Ich bin auf jeden Fall meiner Mutter dankbar, dass sie mir erlaubt hat, die zu werden, die ich heute bin – auch, wenn das für sie bedeutete, mich loszulassen.

Doch egal wohin und wie weit wir in die Welt hinausgehen, tragen wir doch immer einen Teil von denen, die uns grossgezogen haben, mit uns. Da sind zum einen die Gene – doch dann sind wir natürlich auch durch ihre Liebe, ihre Werte und ihre Weltanschauung beeinflusst worden; all dies tragen wir bewusst oder unterbewusst mit uns herum. Ihr Leben hat das unsere geprӓgt. Auf der anderen Seite prӓgen wir das Leben derer, die wir grossziehen. Unser Einfluss ist grosser, als wir es vielleicht wahrhaben. Unsere Kinder, all jene, zu deren Erziehung wir beitragen, tragen mehr von uns in die Welt, als wir es vielleicht wahrhaben. Bei Erziehung geht es letztendlich irgendwie um Vermӓchtinis. Und um Vermӓchtnis geht es auch bei der Himmelfahrt Christi.

Der Evangelist Lukas schrieb nicht nur das Evangelium, sondern auch die Apostelgeschichte. Diese beiden Schriften sind wie Briefe verfasst und an einen gewissen Theophilus gerichtet – und ‘Theophilus’ bedeutet wörtlich ‚Liebhaber Gottes‘. Theophilus könnte eine bestimmte Person sein, doch könnte dies auch als allgemeinde Anrede gemeint sein: ‘An dich, lieber Leser, Liebhaber Gottes’. Aber das nur am Rande.

Nun ist Lukas der einzige Evanglist, der die Himmelfahrt Jesu Christi beschreibt – und das nicht nur einmal, sondern doppelt: das Lukasevangelium endet mit der Himmelfahrt, und die Apostelgeschichte nimmt dann eben diese Geschichte am Anfang in einer etwas detaillierteren Version wieder auf.

Für Lukas ist es also wichtig, einen ganz konkreten vorlӓufigen Endpunkt des Wirkens Jesu auf Erden zu setzen; da ist ein Abschluss. Der auferstandene Christus verschwindet nicht nur ins Ungewisse, so wie bei den anderen Evangelisten. Bei Lukas wird deutlich, dass nun ein Kapitel abgeschlossen ist und ein neues begonnen wird.

Ungefӓhr drei Jahre lang wirkte Jesus in Galilӓa und Judӓa und berief Jünger, Menschen, die nicht nur ihm, sondern auch seiner Lehre folgten. Übrigens waren das viel mehr als nur die 12, der enge Kreis um Jesus, und viele Frauen waren auch darunter. Jesus lehrte die Jünger in dieser Zeit, er liebte sie, er war ihr Mentor, und er forderte sie manchmal auch heraus und machte es ihnen nicht immer einfach. Jesus übte mitunter liebevolle Strenge mit seinen Jüngern – man muss nur einmal überlegen, wie er den Petrus zurechtwies, und das mehr als einmal. Doch tat Jesus dies, um seine Nachfolger vorzubereiten – sie darauf vorzubereiten, im Glauben zu wachsen und dann in die Welt hinauszugehen und sein Wirken fortzusetzen: zu heilen, zu predigen, Freund und Feind zu lieben, all die Dӓmonen auszutreiben, von denen wir als Individuen und als Gesellschaften manchmal besessen sind, und es zuzulassen, dass Gottes Reich des Friedens und der Gerechtigkeit weiter unter ihnen wӓchst.

Darüber hinaus verbringt Jesus 40 Tage nach seiner Auferstehung mit den Jüngern und hilft ihnen dabai, all das, was er sie gelehrt hatte, im Licht der Auferstehung und des neuen Lebens in Gott zu sehen. Übrigens ist die Zahl 40 nicht zufӓllig: im Judaismus ist die Zahl 40 heilig und symbolisiert Reife und Vollendung. Es regnete 40 Tage und Nӓchte, als Noah auf der Arche war, und dann dauerte es weitere 40 Tage, bis die Wasser zurückwichen und Leben auf der Erde wieder möglich war. Das Volk Israel verbrachte 40 Jahre in der Wüste nach der Flucht aus Ägypten, bevor es in das gelobte Land einziehen konnte. Jesus verbrachte nach seiner Taufe 40 Tage in der Wüste und wurde von Satan verführt, bevor er sein Wirken begann. Die Zahl 40 symolisiert eine notwendige Zeit der Vorbereitung, bevor die Zeit vollendet ist und etwas Neues geschehen kann.

Und so werden Jesu Jünger 40 Tage lang vorbereitet, bevor Jesus gen Himmel fӓhrt. Die Jünger werden zu lebenden Pfeilen, die in die Welt gesandt werden. Doch als Kinder Gottes tragen sie auch den hinein in die Welt, dessen Leben ihr Leben und ihre Herzen geprӓgt hat: Jesus Christus, den lebendigen Gott. Sie sind mit dem Kreuz Jesu auf ewig gezeichnet. Und wenn auch Christus nicht mehr physisch bei ihnen ist, so sind sie doch nicht allein: sie werden zum Leib Christi in der Gemeinschaft mit ihren Schwestern und Brüdern, und bald, am Pfingsttage, werden sie Gottes Heiligen Geist empfangen – Gottes Gegenwart mit ihnen, unter ihnen, Gottes Gegenwart durch sie.

In der Himmelfahrtsgschichte, wie wir sie am Anfang der Apostelgeschichte finden, begegnen wir zwei engelsgleichen Figuren, die den Jüngern, die Jesus hinterherstarren, zurufen: ‚Was steht ihr da herum und schaut in den Himmel?‘ Und was sie damit sagen wollen, ist: sucht nicht nach Christus da oben, berechnet nicht, wann er wohl wiederkommen wird, sagt nicht das Ende der Welt voraus. Schaut euch stattdessen um, schaut auf die Welt, in der ihr lebt. Die Gegenwart Christi durch euch wird hier benötigt. Schaut euch um und seht, wie euch Christus in eurem Mitmenschen begegnet – denn was ihr einem der geringsten unter diesen getan habt, so spricht Jesus, das habt ihr mir getan.

Nun sind wir die Glaubensnachkommen der ersten Jüger. Wir wurden am Tag unserer Taufe mit dem Kreuz Christi auf ewig gezeichnet, Christi Leben und Lehre prӓgt uns. Auch uns gilt die Botschaft der Engel: schaut nicht nur auf den Himmel, sondern seid die Gegenwart Christi in der Welt heute. Liebt. Heilt. Versöhnt. Schafft Frieden und Gerechtigkeit.

Das Reich Gottes ist nahe herbeigekommen. Es ist mitten unter uns. Als Kinder Gottes in der heutigen Welt sind wir dazu berufen, dieses Reich in Wort und Tat zu verkündigen. Wir sind die lebenden Pfeile, die Gott in die Welt aussendet, und wir sollen ein Segen sein – im Namen Christi, dessen Namen wir tragen, von dem wir kommen – und zu dem wir dereinst auch wieder zurückkehren.

Christi Vermӓchtnis wird zu unserem Vermӓchtnis.