Predigt zu Johannes 1, 32-44; Ewigkeitssonntag – 22. November 2015

lazarus

 

(Im anklagenden Ton gelesen):

“Herr, wärest du hier gewesen, mein Bruder wäre nicht gestorben.”

 

Wärest du nur hier gewesen.  Wieso bist du erst jetzt gekommen? Wo warst du, als ich dich brauchte, Gott?  Wollen Maria und Martha dies sagen, nachdem ihr geliebter Bruder Lazarus gestorben ist?

 

Der Tod ist für viele eine harsche Realität. Und wir haben versucht, die Realität des Todes aus unserem Leben auszuschließen. Wir verstecken unsere Kranken, die Alten und die Sterbenden in Pflegeheimen. Friedhöfe, gerade in diesem Lande, finden wir meist nicht mehr direkt neben den Kirchen – nein, Friedhöfe sind in Kolonien arrangiert, weitab von den Lebenden. Solche Grabeskolonien finden wir in San Bruno, South San Francisco und Daly City. Wir versuchen geradezu, unser Leben von all dem fernzuhalten, das irgendwo nach Tod riecht – denn der Tod ist unangenehm und bedrohlich.

 

Die Medizin ist heutzutage so gut entwickelt, daß viele Krankheiten, die in vergangenen Jahrhunderten, oder selbst noch in den 80ern, wenn Sie an Aids denken, zum sicheren und viel zu frühen Tod führten, heute geheilt oder doch zumindest gebremst werden können. Die Erwartung, daß das Leben verlängert werden kann, ist so hoch, daß viele Ärzte und Ärztinnen sich als Versager fühlen, wenn sie einen Patienten verlieren. Tod wird so als etwas angesehen, das verhindert werden kann – aber nicht als etwas, das wir alle einmal früher oder spӓter durchmachen müssen. Wir wenden uns vom Tod ab und haben einen ungebändigten Lebenshunger. Wir versuchen, das Leben zu erhalten, zu reparieren, zu verbessern und zu verlängern, soweit wir können. Es ist halt nicht einfach, unsere Sterblichkeit zu akzeptieren.

 

Und so mӧgen wir uns von Gott verlassen fühlen, wenn jemand, den wir lieben, stirbt. Herr, wӓrest du hier gewesen, so wӓre mein Bruder, meine Mutter, mein Kind, mein Freund nicht gestorben. Wo warst du? Welch ein Gott bist du, daβ du so etwas zulӓβt?

 

(Im zuversichtlichen Ton gelesen):

“Herr, wärest du hier gewesen, mein Bruder wäre nicht gestorben.”

 

Ich weiβ, daβ du Macht über den Tod hast, Herr. Ich glaube an dich. Deine Gegenwart ist alles, was wir brauchen, um zu leben. Wollen Maria und Martha dies sagen, nachdem ihr geliebter Bruder gestorben ist? Nun scheint es ja, daβ vor allem Martha so einige Zeichen und Wunder von Jesus erwartet, da nun ihr Bruder tot ist, denn sie fügt, wahrscheinlich mit Hintergedanken, hinzu: „Aber auch jetzt weiβ ich: was du bittest von Gott, das wird dir Gott geben.“ Nun komm schon, Jesus, ich weiβ du kannst das!

 

Wie oft, wenn wir mit Sterben oder Tod zu tun haben, versuchen wir, mit Gott zu handeln? Wir haben Glauben, wir wissen, daβ unser Erlӧser lebt, wir glauben and die Macht des Gebets, wir glauben an das Leben, und wir kӧnnen uns sicher sein, daβ Gott den Tod nicht will. Gott, wir wissen, daβ du die Macht hast: rette jene, die du liebst, jene, die wir lieben – erlӧse uns von Leiden und Sterben!  Nun komm schon, Gott, ich weiβ du kannst das!

 

Und verstehen Sie mich bitte nicht falsch, ich glaube an die Macht des Gebets. Wir haben hier für Brüder und Schwestern in der Gemeinde und darüber hinaus gebetet. Wir haben hier kleine Wunder erlebt: z.B. daβ Menschen, die mit einer tӧdlichen Krankheit diagnostiziert worden waren, dann doch noch viel lӓnger lebten als erwartet. Wir haben im vergangenen Jahr zu zweien von ihnen Abschied nehmen müssen: Sigrid Raub und Barbara Damele wurde jeweils nach einer Krebsdignose nur wenige Monate zu leben gegeben. Beide überlebten dann noch Jahre, zum Glück auch noch mit guter Lebensqualitӓt. Da gibt es unter uns jene, die Krebs überwunden haben, mit Hilfe der medizinischen Fachkrӓfte und dank des Gebets anderer. Ein glӓubiges Gebet bedeutet schon etwas.

 

Aber dann gibt es da eine feine, oder auch nicht so feine, Grenze zwischen Glauben und Anspruchserwartung: Gott MÜSSTE uns das gewӓhren, worum wir bitten. Der Tod bleibt eine Realitӓt, und was passiert, wenn Gott uns nicht das gewӓhrt, worum wir bitten? Was, wenn, jemand, für den oder die wir beten, trotzdem stirbt? Was passiert mit unserem Glauben in solch einem Fall? Lehnen wir Gott ab, weil wir nicht das bekommen, von dem wir denken, das wir es verdienen?  Denken wir, daβ Gott irgendwie nicht seinen Teil des Handels einhӓlt?

 

(In zӧgerlicher, fragender Weise gelesen):

“Herr, wärest du hier gewesen, mein Bruder wäre nicht gestorben …?”

 

O, Jesus, sag mir bitte daβ er nicht gestorben wӓre, wenn du hier gewesen wӓrst. Du hӓttest den Tod abgewendet, nicht wahr? Bestӓrke mich in meinem Glauben, bestӓrke mich in meiner Hoffnung, gib mir Trost. Wollen Maria und Martha dies sagen, nachdem ihr geliebter Bruder gestorben ist?

 

Wenn wir jemanden verlieren, dann mӧgen wir viele Fragen haben und nach Antworten suchen – und leider gibt es da auch viele, die eine schnelle Antwort parat haben. “Es war nun einmal ihre Zeit, zu gehen,” hӧren wir manchmal, oder “Der liebe Gott weiβ schon, was er tut.” Oder wir hӧren, “Dieser Mensch ist nicht vergeblich gestorben, nein, es gibt einen Grund dafür.” Manche Leute denken, daβ, solange jemand für etwas stirbt, sei es das Vaterland, oder Freiheit, oder für ihren Glauben, daβ solch ein Tod irgendwie Sinn macht.

 

Doch die Realitӓt ist, daβ es keine schnellen oder einfachen Antworten gibt. Nicht von Jesus. Nicht von Gott. Jesus weint, als er vom Tod seines Freundes Lazarus hӧrt. Jesus weiβ ganz genau, daβ der Tod immer noch ein weites Spielfeld in dieser Welt hat – erst letzte Woche wurden wir schmerzhaft daran erinnert, als wir Zeugen mehrerer Terroranschlӓge in der Welt wurden; und gerade die Anschlӓge in Paris haben uns erschüttert. Der Tod, den die Opfer dieser Terrorattacken starben, macht überhaupt keinen Sinn. Der Tod ist der Feind des Lebens. Der Tod ist der Feind Gottes. Und Jesus weiβ, daβ er seinem eigenen Tod entgegensieht, einem langsamen und qualvollen Tod. Am Ende seines Weges steht das Kreuz. Nein, Jesus hat den Tod des Lazarus nicht verhindert. Jesus verhindert noch nicht einmal seinen eigenen Tod. Aber er weist auf eine Wirklichkeit hin, die jenseits des Todes existiert: Ich bin die Auferstehung und das Leben, sagt er. Wer an mich glaubt, der wird leben, auch wenn er stirbt. Für jene, die glauben, ist Gott gegenwӓrtig, und wo Gott gegenwӓrtig ist, da wird der Tod nicht das letzte Wort haben. Und darum haben wir Hoffnung. Gott ist mit uns. Dies ist das absolute Versprechen, auf das wir bauen.

 

Und dieses Versprechen schlieβt die mit ein, die im vergangenen Jahr verstorben sind, und auch die, die davor verstorben sind. Und dieses Versprechen gilt auch uns.

 

Ich mӧchte mit einem Gedicht des Schweizers Conrad Ferdinand Meyer abschlieβen. Hier schreibt Meyer aus der Sicht eines todkranken Mannes, der seine letzten Tage in Isolation verbringt, und eben dieses Versprechen für sich entdeckt. So lesen wir aus dem Gedicht “Das Kreuz”:

 

Fernab die Welt. Im Reiche meines Blicks

An nackter Wand allein das Kruzifix.

An hellen Tagen liebt’ in Hof und Saal

Ich nicht das Bild des Schmerzes und der Qual;

Doch Qual und Schmerz ist auch ein irdisch Teil,

Das wuβte Christ und schuf am Kreuz das Heil.

 

Je lӓnger ich’s betrachte, wird die Last

Mir abgenommen um die Hӓlfte fast,

Denn statt des einen leiden unser zwei:

Mein dorngekrӧnter Bruder steht mir bei.

 

Amen.