Jeden Herbst, wenn die Tage dunkler werden, kommt mir ein Gedicht in den Sinn, das ich seinerzeit in der Schule auswendig lernen muβte. Es wurde vom böhmischen Dichter Rainer Maria Rilke verfaβt und heiβt ‘Herbst’.
 
Die Blätter fallen, fallen wie von weit,
als welkten in den Himmeln ferne Gärten;
sie fallen mit verneinender Gebärde.
 
Und in den Nächten fällt die schwereErde
aus allen Sternen in die Einsamkeit.
 
Wir alle fallen. Diese Hand da fällt.
Und sieh dir andre an: es ist in allen.
 
Lassen Sie mich hier für einen Moment innehalten. Dieses recht schwermütige Gedicht scheint ja irgendwie nicht in die heutige Zeit und die Kultur, die uns umgibt, zu passen. Wir feiern das Leben, die Jugend und Jugendlichkeit. Wir tun alles, was in unserer Macht steht, Leben zu verlängern, und wenn es sein muβ, künstlich. Wir denken gar nicht gerne über unsere Endlichkeit Sterblichkeit nach, und wir reden nicht gerne über den Tod. Wir machen uns gar über den Tod an Halloween lustig, und während des Endes des Kirchenjahres, da wir ja eigentlich des Todes und der Toten gedenken sollen, fangen wir bereits damit an, unsere Häuser festlich zu schmücken; einige verjagen dann auch jeden Schatten des Dunkels dieser Jahreszeit mit übertriebenen Weihnachtsbeleuchtungen.
Wir haben es vergessen, wie man trauert. Und teilweise liegt das an unserer Umgebung, die den Tod verneinen will und uns sagt, wir sollten uns doch zusammenreissen, das Leben muss ja weitergehen. Wir verstecken unsere Trauer schnell, nehmen wieder am Leben teil – und tief drin, da fühlen wir dann doch diesen merkwürdigen Schmerz.
Aber wie sehr wir auch versuchen, den Gedanken an unsere Sterblichkeit zu verscheuchen – irgendwann holt uns der Tod dann doch ein. Und das hängt nicht davon ab, welche Hautfarbe oder Nationalität wir haben, ob wir reich und mächtig oder arm und bescheiden sind. Manchmal ist er recht fern, wir erfahren über seine Grausamkeit durch die Nachrichten. Da hören wir dann von denen, die dem Feuersturm nicht entkommen konnten, oder von den Opfern der letzten sinnlosen Massenschiesserei, oder von einem Attentat wir dem, das am Freitag im Sinai geschehen ist.
Manchmal stirbt jemand, den wir kennen. Manchmal nimmt uns der Tod die, die und nahestehen: eine Freundin, ein Bruder, eine Schwester, ein Elternteil, ein Kind. Und gerade dann können wir der Realität des Todes nicht entrinnen oder sie verleugnen, sondern müssen uns damit auseinandersetzen.
Und je älter wir werden, desto mehr Menschen verlieren wir. Und je älter wir werden, desto mehr müssen wir uns auch mit der Realität unseres eigenen Todes abfinden. Wie sehr wir es auch versuchen mögen, wir können dem Tod nicht entkommen.Wir alle fallen, oftmals mit verneinender Gebärde.
Nun sind wir nicht die einzigen, die dem Tod mit verneinender Gebärde entgegentreten. In den Evangelien haben wir zahlreiche Berichte über die heilende Kraft von Jesus Christus. Er erweckt gar mehrere Menschen von den Toten: Lazarus, den Jüngling von Nain, und die 12jährige Tochter des Synagogenvorstehers Jairus. Jesus leidet mit wenn Menschen trauern. Jesus weiss, wie weh es tut, jemanden zu verlieren. Jesus hat Anteil an unserem Kummer, es kümmert ihn. Und durch Christi Mitleid und Taten erfahren wir, daβ Gott ein entschlossenes Nein zum Tod spricht.
Wenn auch Christus heute nicht mehr unter uns wandeln mag und Tote auferweckt, die uns zu früh entrissen wurden, so geben uns doch diese Geschichten Hoffnung und die Zuversicht, daβ der Tod nicht das letzte Wort hat. Besonders sehen wir das im Kreuz und im leeren Grab am Ostermorgen. Christi Auferstehung ist die ultimative verneinende Gebärde.
Dies mag uns nicht die Furcht vor dem Tod nehmen. Dies mag uns auch nicht von der Trauer befreien, die wir verspüren, wenn wir jemanden verlieren, der oder die uns nahesteht. Dies gibt all den sinnlosen gewaltsamen Toden keinen Sinn. Denn der Tod ist immer noch eine, ofte grausame, Realitӓt. Doch in unserer Angst, unserer Trauer, und in unserer Wut können wir trotzige Hoffnung haben. (Kerze anzünden.)
Dies ist die dunkle Jahreszeit, in der wir viel des Todes und der Toten gedenken. Das ist gut so, und wir sollten nicht versuchen, diese Gedanken und dieses Gedenken mit verneinender Gebӓrde durch übermӓβige Fröhlichkeit und ‚Holiday Spirit‘ und grelle Lichter zu früh zu verscheuchen. Anstatt dessen lade ich Sie und Euch ein, die Dunkelheit, die und umgibt, durch sanfte Lichter der Hoffnung zu erhellen. Zündet eine Kerze an für Menschen, um die Ihr trauert. Lasst es im Advent jeden Sonntag mit den Kerzen auf dem Adventskranz etwas heller werden – erst eins, dann zwei, dann drei, dann vier. Und vergeβt nicht, euer Licht in dieser Welt leuchten zu lassen.
Diese Welt braucht nicht mehr künstlichen Frohsinn, der unsere Ängste und Trauer versteckt. Diese Welt braucht Hoffnung. Eine Hoffnung, die wir tragen und zu teilen berufen sind. Die Hoffnung, daβ Liebe das letzte Wort über Haβ und Gleichgültigkeit haben wird – daβ Versӧhnung das letzte Wort über Gewalt haben wird – daβ Gott das letzte Wort über den Tod spricht.
Rainer Maria Rilke weiβ von dieser Hoffnung. Und so lassen Sie mich zum Abschluβ das ganze Gedicht ‚Herbst‘ zitieren.
 
Die Blätter fallen, fallen wie von weit,
als welkten in den Himmeln ferne Gärten;
sie fallen mit verneinender Gebärde.
 
Und in den Nächten fällt die schwereErde
aus allen Sternen in die Einsamkeit.
 
Wir alle fallen. Diese Hand da fällt.
Und sieh dir andre an: es ist in allen.
 
Und doch ist Einer, welcher dieses Fallen
unendlich sanft in seinen Händen hält.
Amen