Predigt zu Matthäus 9, 35 – 10,8; Erster Sonntag nach Trinitatis – 18. Juni 2017

 

Diese Woche brachte uns wieder Nachrichten, die einem den Magen umdrehen: da war das verheerende Feuer in einem Wohnblock in London, in dem Dutzende von Menschen ihr Leben verloren, darunter viele Kinder. Ein Mann schießt auf Kongressabgeordete in Alexandria, nahe der Hauptstadt, und verletzt einige. Ein weiterer Waffenschütze tötet drei Kollegen in einem UPS Verteilungscenter hier in San Francisco, gar nicht so weit von hier, bevor er sich selbst richtet. Erst heute morgen hӧrten wir in den Nachrichten, daβ in einem Waldfeuer in Portugal mindestens 60 Menschen ihr Leben verloren. Ich weiß nicht, wie es Ihnen damit geht, aber mich machen solche Nachrichten krank. Menschliches Leiden, sinnlose Gewalt – wie könnten wir davon nicht betroffen sein?

Doch dann weiß ich über mich selbst, daß mich solche Geschichten für eine kurze Weile berühren und beschäftigen – und dann verstaue ich sie irgendwo ganz tief in meinem Hirn. Vielleicht aus Selbstschutz – ich meine, wieviel schlechte Nachrichten kann man verdauen ohne verrückt zu warden? – aber mein Verdacht ist, daß das auch etwas damit zu tun hat, daß mich letztlich solche schrecklichen Ereignisse nicht direkt betreffen. Ich kenne keine der Opfer der Ereignisse der letzten Woche, nicht einmal Menschen, die den Opfern nahestanden. Irgendwie ist das ganze dann doch außerhalb meiner Erfahrung; die Menschen, die letzte Woche starben, an Leib oder Seele verletzt wurden oder auch jemand Geliebtes verloren haben bleiben für mich doch irgendwie anonym und abstrakt. Ich spreche ein Gebet oder auch zwei, und dann geht’s mit dem Leben weiter.

Es ist schwer, wirklich Mitleid zu haben, wenn wir nicht unmittelbar von Dingen betroffen sind, die in der Welt passieren. Es ist schwer, wirklich mit jemandem mit zu leiden, wenn wir sie nicht kennen.

Vor ein paar Jahren las ich das faszinierende Sachbuch ‚Far from the Tree‘, ‚Weit vom Stamm‘, des Psychologen Andrew Salomon. Wir kennen ja wahrscheinlich alle die Redewendung, ‚Der Apfel fӓllt nicht weit vom Stamm‘; dies bedeutet, daβ unsere Nachkommen normalerweise einige unserer Merkmale haben und mehr oder weniger so wie wir sind. Nun untersucht Solomon aber einige Fӓlle, in denen ein Kind so ganz anders als die Eltern ist, sei es, weil das Kind eine Behinderung oder eine schwere Krankheit hat, oder sei es, weil das Kind hochbegabt ist oder Transgender. Solomon beschreibt, daβ es eine ganz besondere Anstrengung der Eltern bedarf, mit solchen Kindern umzugehen, die eben nicht so wie geplant oder erhofft auf die Welt kommen oder sich anders entwickeln, als die Eltern es wünschen. Es bedarf eines besonderen Verstӓndnisses, und oft werden Eltern von Kindern, die irgendwie anders sind, auch zu lautstarken Advokaten und Fürsprechern für ihre Kinder – aber dann auch darüber hinaus für andere, die von derselben Sache betroffen sind. Hӓufig engagieren sich solche Eltern dann auch gesellschaftlich. Ich kenne zum Beispiel eine Familie, die nach zwei gesunden Kindern eine Tochter mit lebensbedrohlicher Diabetes zur Welt brachten. Die Eltern haben seitdem eine Stiftung zur Erforschung von Kindesdiabetes gegründet – ja, diese Familie hat Geld – und eben nicht nur, um ihrer Tochter zu helfen, sondern eine Heilung für all jene Kinder zu finden, die an Diabetes leiden.

Diese Geschichte und die Geschichten, die Solomon in seinem Buch beschreibt, sind sehr bewegende Geschichten des ganz wӧrtlichen Mitleidens dieser Eltern – sie haben am Leiden des Kindes mit Diabetes, mit Down Syndrom, des tauben Kindes, des Kindes, das mit seiner Sexualitӓt ringt, teil. Wenn man als Elternteil solch einer unerwarteten Situation ausgesetzt ist, dann erweitert sich natürlich das Bewuβtsein, und das Mitleiden dehnt sich über die Familie in weitere Kreise aus. Wir sehen das immer wieder in unserer Gesellschaft.

Nach dem schrecklichen Anschlag auf die Sandy Hook Grundschule im Jahre 2012 z.B., bei dem ein junger Mann 20 Kinder und 6 Erwachsene kaltblütig erschoβ, wurde die Organisation ‘Moms demand action for gun sense in America’ – ‚Mütter verlangen Taten für mehr Vernunft im Umgang mir Waffen‘ gegründet. Diese Organisation trauert über jegliche Waffengewalt in diesem Land, wie den Angriff auf Abgeordnete des Kongresses und die Attacke auf Mitarbeiter von UPS hier in San Francisco und all die anderen Fӓlle von Waffengewalt, die wir hier leider in diesem Lande tagtӓglich erleben, wie z.B. Kinder, die eine ungesicherte Waffe im Haus finden und entweder sich selbst oder jemanden in ihrer Umgebung enabsichtlich tӧten; und diese Organisation plӓdiert unaufhӧrlich dafür, daβ mehr Vernunft im Umgang mit Waffen angewandt wird und Gesetzte dementsprechend geӓndert werden.

Denn diese Mütter, diese Eltern, wissen, wie es ist, ein Kind durch Waffengewalt zu verlieren. Wie sinnlos es ist. Wie unertrӓglich es ist. Und daβ jedes Leben, daβ durch Waffengewalt verloren wird, ein Leben zuviel ist.

Und Jesus ging ringsum in alle Stӓdte und Dӧrfer, lehrte in ihren Synagogen und predigte das Evangelium von dem Reich und heilte alle Krankheiten und alle Gebrechen. Und als er das Volk sah, jammerte es ihn; denn sie waren verschmachtet und zerstreut wie die Schafe, die keinen Hirten haben.

Es jammerte ihn. Nun ist dies eine altmodische Redenwendung, die aus irgendeinem Grunde in die neueste Übersetzung der Lutherbibel aus diesem Jahr übernommen wurde. Was dies bedeutet ist, daβ Jesus Mitleid hatte, wirklich mitlitt. Das griechische Wort, das hier verwendet wird, ist sogar noch intensiver – es berührte Jesus in seinen Eingeweiden. Mitten ins Herz wӓre eine moderne Übersetzung – zu Jesu Zeiten wurde eben nicht das Herz als das Organ verstanden, in dem wir Gefühle verspüren, sondern eben die Eingeweide.

Es trifft Jesus mitten ins Herz. Es kümmert ihn. Jeder Mensch ist ein Kind Gottes, liebevoll erschaffen. Natürlich ist Gott betroffen, wenn seine Kinder leiden. Natürlich trifft es Gott ins Herz, wenn seine Kinder verschmachtet und zerstreut sind und leiden. Darin kӧnnen wir als Gottes Kinder Trost finden, daβ es Gott kümmert – kummert – wenn wir nicht wissen, was los ist, wenn wir uns fühlen, als hӓtten wir die Orientierung verloren, wenn wir meinen, den Verstand zu verlieren. 

Und sind wir nicht ganz weit vom Stamm gefallen?  Wir sind so ganz anders als Gott, der Vater, doch umso mehr strength Gott sich an, uns zu verstehen und eine Beziehung mit uns aufzubauen; Gott wird auch zu unserem leidenschaftlichen Fürsprecher. Der Beweis dafür ist, daβder Vater Jesus Christus in die Welt sandte. Gott ist auf unserer Seite, und auf der Seite der gesamten Menschheit. Gott verstӧβt uns nicht, nur weil wir uns eben nicht so entwickelt haben, wie Gott es sich ursprünglich erhofft hatte. Und darum geht’s in der heutigen Lesung aus dem Rӧmerbrief: Gott erweist seine Liebe zu uns darin, daβ Christus für uns gestorben ist, als wir noch Sünder waren.

Gott ist der liebende und fürsorgliche Vater, der ein Vorbild für alle Vӓter ist, die wir am heutigen Vatertag feiern. Denn das ist es, was wir uns in und an einem Vater erhoffen: daβ er sich kümmert, daβ es ihn kümmert, daβ er uns herausfordert und uns fӧrdert, daβ er auf der Seite seiner Kinder ist und sich für sie bedingungslos einsetzt. Bedingungslos.

Gott leidet mit all denen mit, die in dieser Welt an Gewalt leiden, aus vollem Herzen, Gott leidet mit all jenen, die irgendwie leiden, und, ja, sogar mit denen, deren Hirne so krank sind, daβ sie anderen Gewalt antun. Und das ist schon schwer zu verstehen. Aber dann wissen wir ja auch, vielleicht aus eigener Erfahrung, daβ Eltern nicht einfach aufhӧren, ein Kind zu lieben, auch, wenn es eine schreckliche Tat begeht. Aber natürlich ist dies dann keine einfache Liebe – diese Liebe tut weh. Und ich glaube, daβ es Gott schmerzt, zu sehen, wie seine Kinder anderen Leid antun, ob kleines oder groβes Leid. Aus vollem Herzen.

Nun habe ich zu Beginn dieser Predigt gesagt, daβ es schwer für uns ist, wahres Mitleid zu haben, aus vollem Herzen, wenn wir nicht direkt vom Leiden anderer betroffen sind. Und wir kӧnnten darüber mit den Schultern zucken und sagen, nun ja, wir sind nun einmal nicht Gott, wir sind nicht Christus, wir sind einfach nicht dazu fӓhig, so mit anderen zu leiden, wie Christus mit ihnen leidet, aus vollem Herzen.

Aber schauen Sie sich einmal an, was dann im heutigen Evangelium passiert. Jesus nimmt sich der Menschen an, und es jammert ihn, er leidet mit, als er sieht, wie verschmachtet und verstreut sie sind. Aber dann sendet Jesus seine Jünger aus, die nun zu Aposteln werden – wӧrtlich bedeutet das, zu denen, die ausgesandt sind. Und er sendet sie aus, um die Arbeit weiterzumachen, die Jesus allein nicht bewӓltigen kann: unreine Geister auszutreiben und alle Krankheiten und Gebrechen zu heilen, Tote aufzuerwecken und Aussӓtzigen rein zu machen.

Aber da geht’s natürlich noch um mehr, es geht tiefer: Was Jesus da tut, ist, die Jünger dazu anzutreiben, unter die Menschen zu gehen, mit ihnen Beziehungen zu knüpfen, sie und ihr Los kennenzulernen. Und dadurch, daβ sie andere Menschen kennenlernen, gewinnen sie die Fӓhigkeit, mit diesen Menschen wahres Mitleid zu haben, mitzuleiden. Wir mӧgen nicht Christus sein, wir mӧgen nicht die Eltern aller Kinder Gottes sein, aber dadurch, daβ wir Kinder Gottes sind, macht uns das zu Geschwistern der Menschheit, die Gott geschaffen hat. Und als solche haben wir die Verantwortung, uns um Gottes Familie mit zu kümmern.

Wir kӧnnen kein wahres und tiefes Mitleid mit der ganzen Welt haben. Das wӓre zuviel verlangt. Aber wir sind nicht allein. Erst vergangenen Donnertag wurde ich daran erinnert, als ich mit unzӓhligen Golden State Warrior Fans in den BART Zug gezwӓngt war, die T-Shirts mit dem Motto der Warriors trugen: Strength in Numbers. Zahlreich sind wir stark, lose übersetzt. Hier und heute sind wir wenige. Aber dann gibt es noch viele Geschwister im Herrn in dieser Stadt, in diesem Land, in der Welt. Wir teilen uns die Verantwortung, mit Menschen Beziehungen zu knüpfen und zu pflegen und so Mitleid zu entwickeln- aus vollem Herzen.

Wir alle gehen an allerlei Orte. Stellen Sie sich vor, Christus sandte Sie ganz bewuβt an jene Orte: um dort die Menschen kennenzulernen. Ihre Geschichten zu hӧren. Zu lernen, mit ihnen mitzuleiden. Zu heilen und zu trӧsten. Auf der Kehrseite finden Sie dann womӧglich auch Mitmenschen, die wahres Mitleid mit Ihnen haben, die es kümmert, wie es Ihnen geht, die Sie heilen und trӧsten.

Je mehr wir miteinander verbunden sind, desto weniger Anonymitӓt gibt es zwischen den Menschen, desto mehr kӧnnen Verstӓndnis und Versӧhnung unter uns wachsen. Und so wӓchst Gottes Reich mitten unter uns, zӓh wie ein Senfkorn. So sehen wir womӧglich einen Wandel in dieser Welt, die immer polarisierter, unfreundlich und gewalttӓtig zu werden scheint. Wir sind dazu ausgesandt, die frohe Botschaft Gottes in diese Welt zu bringen und in dieser Welt zu sein. Aus vollem Herzen.