1. Sankt Martin, Sankt Martin, Sankt Martin
    ritt durch Schnee und Wind,
    sein Roß das trug ihn fort geschwind.
    Sankt Martin ritt mit leichtem Mut:
    sein Mantel deckt’ ihn warm und gut.

 

  1. Im Schnee saß, im Schnee saß,
    im Schnee da saß ein armer Mann,
    hatt’ Kleider nicht, hatt’ Lumpen an.
    “O helft mir doch in meiner Not,
    sonst ist der bittre Frost mein Tod!”

 

  1. Sankt Martin, Sankt Martin,
    Sankt Martin zog die Zügel an,
    sein Roß stand still beim armen Mann,
    Sankt Martin mit dem Schwerte teilt’
    den warmen Mantel unverweilt.

 

 

  1. Sankt Martin, Sankt Martin
    Sankt Martin gab den halben still,
    der Bettler rasch ihm danken will.
    Sankt Martin aber ritt in Eil’
    hinweg mit seinem Mantelteil.

Kennen Sie dieses Lied? Es ist ein traditionelles Kinderlied, das am Martinstag gesungen wird, und Martinstag ist morgen, am 11. November.

Wie Sie vielleicht wissen, wird der Martinstag in vielen Teilen Europas immer noch begangen. Der heilige Martin ist der Schutzheilige Frankreichs, also ist der Tag den Franzosen wichtig. In vielen Teilen Europas wird am Martinstag die Martinsgans verzehrt. Und in vielen Teilen Deutschlands ziehen am Martinstag Kinder nach Anbruch der Dunkelheit mit bunten Laternen durch die Strassen und singen Lieder, wie das, das wir gerade gesungen haben – Hoffnungsträger in einer Jahreszeit, in der die Tage immer kürzer und kälter werden.

Als Kind liebte ich diese Laternenumzüge zum Martinstag. Ich erinnere mich daran, dass ich immer sehr vorsichtig sein musste – wir hatten damals noch echte Kerzen in unseren Laternen, und so manche Laterne ging bei diesen Umzügen auch in Flammen auf. ‘Brenne auf, mein Licht, brenne auf, mein Licht, aber nur meine liebe Laterne nicht.’

Ich vermisse diese Tradition. Ja, ich weiss, einige deutsche Schulen in der Bay Area bieten vereinzelt Laternenumzüge an, aber das ist eben nicht dasselbe, als wenn in einer Ortschaft dutzende oder gar hunderte von Kindern durch die Dunkelheit ziehen und es einfach ein Teil der Tradition ist. Hier kennt kaum jemand die Legende vom heiligen Martin.

Wir haben gerade einen Teil der Legende gesungen. Aber wie gesagt, es ist lediglich eine Legende. Lassen Sie mich also etwas über den wirklichen Martin erzählen.

Martin wurde im 4. Jh. n. Chr. In einem Teil des Römischen Reiches geboren, der heute Ungarn ist. Sein Vater war Teil der römischen Armee, also wurde auch Martin Soldat. Sein Name, Martin, spiegelt auch eine Verehrung des römischen Kriegsgottes, Mars, wieder.

Und nun zur Legende: der junge Soldat Martin, der womöglich schon mit dem Christentum geliebäugelt hatte, ritt auf seinem Schlachtross im kalten Winter durch die Nacht. Als ein Soldat höheren Ranges war er nicht nur mit der typischen Uniform, sondern auch mit einem warmen Wollmantel gekleidet. Als er so dahinritt, bemerkte er einen armen Bettler am Wegesrand, der nur ein paar Lumpen am Leibe hatte. Martin hatte Mitleid mit dem armen Mann, der in diesem Wetter sicherlich die Nacht nicht überleben würde. Also nahm Martin den Mantel von seinen Schultern, griff sein Schwert und schnitt den Mantel entzwei. Eine Hälfte gab er dem Bettler, der, dank dieser Wohltat, die Nacht überlebte.

Nun ist es so, dass viele die Geschichte bis zu diesem Punkt kennen. Und ist dies nicht ein ‘happy ending’? Die Situation des Bettlers wurde zum Besseren verändert. Und die Moral von der Geschichte ist, dass wir teilen sollen, so wie der heilige Martin.

Aber die Geschichte geht noch weiter. So lassen Sie uns nun die nächsten drei Verse des Martinsliedes singen.

  1. Sankt Martin, Sankt Martin,
    Sankt Martin legt sich müd’ zur Ruh
    da tritt im Traum der Herr dazu.
    Er trägt des Mantels Stück als Kleid
    sein Antlitz strahlet Lieblichkeit.

 

 

  1. Sankt Martin, Sankt Martin,
    Sankt Martin sieht ihn staunend an,
    der Herr zeigt ihm die Wege an.
    Er führt in seine Kirch’ ihn ein,
    und Martin will sein Jünger sein.

 

  1. Sankt Martin, Sankt Martin,
    Sankt Martin wurde Priester gar
    und diente fromm an dem Altar,
    das ziert ihn wohl bis an das Grab,
    zuletzt trug er den Bischofsstab.

So also geht die Geschichte noch weiter: in der Nacht, nachdem Martin dem Bettler geholfen hatte, sieht er im Traum Jesus, der den Teil des Mantels trägt, den Martin dem Bettler gegeben hatte. Und Jesus spricht in diesem Traum zu den Engeln und sagt: ‘Martin, der Soldat, hat mich mit seinem Mantel gekleidet.’

Dies war Martins Bekehrungserlebnis. Er wurde ein überzeugter Christ und gab seine Existenz als Soldat auf, da er seinen neugefundenen Glauben nicht mit dem brutalen Leben eines Soldaten vereinbaren konnte. Von nun an versuchte er, Christi Antlitz in jedem Menschen zu erkennen, dem er begegnete. Und das ging natürlich irgendwie Hand in Hand: denn wie kann man einen Menschen verletzen oder gar töten, wenn man Christus in ihm erkennt?

‘Wahrlich, ich sage euch: Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan.’ So spricht Jesus in Matthäus 25, und dieses Wort stand fortan im Mittelpunkt des Lebens Martins als Christ.

Es stellt sich haraus, dass es in der Geschichte Martins eben nicht hauptsächlich darum geht, dass die Situation des Bettlers durch Martins Wohltat verändert wurde – sondern darum, dass Martins Leben von Grund auf verändert wurde und er ein neues Leben in Christus fand.

Martin wurde letzlich Bischof von Tours, was im heutigen Frankreich liegt. In der römisch-katholischen und der orthodoxen Tradition ist Martin der Schutzheilige der Soldaten, der Kriegsdienstverweigerer, der Schneider und der Weinmacher. Was die Weinmacher in dieser Gruppe suchen, weiss ich nicht…

Nun noch ein bisschen interessante Information zum heiligen Martin: Martin Luther, dessen Geburtstag wir heute gedenken, am 10. November, wurde einen Tag nach seiner Geburt getauft und nach dem Tagesheiligen benannt, wie es damals so Sitte war.

Und noch ein Stück interessanter Information: vielleicht haben Sie sich ja gefragt, ob es irgenwie eine Verbindung zwischen dem Veterans Day, der in diesem Lande morgen begangen wird, und dem Martinstag gibt. Die Antwort ist ja. Der Waffenstillstand nach dem 1. Weltkrieg wurde ganz bewusst am 11. November geschlossen, im Gedenken an Martin, dem Soldaten, der zum Pazifisten wurde. Und Veterans Day war auch hier im Lande zunächst einmal als ‘Armistice Day’, also Tag des Waffenstillstands, bekannt; an jenem Tage wurde all der Veteranen des 1. Weltkrieges gedacht. Nach weiteren Kriegen aber wurde der Tag dann letzlich in ‘Veterans Day’ umbenannt. Dass Veterans’ Day und der Martinstag beide auf den 11. November fallen, ist also kein Zufall.

Aber nun zurück zur Legende vom heiligen Martin. Das Wichtige an der Geschichte ist, dass Martins Leben von Grund auf durch sein Erlebnis mit dem Bettler und diese nächtliche Vision verändert wurde. Seine Perspektive wurde eine andere: dadurch, dass er von nun an das Antlitz Christi in allen Menschen sah, denen er begegnete.

Dies geht weit über das Geben von Almosen hinaus. Dies ist sehr viel schwieriger, als lediglich etwas abzugeben. Und ich möchte Sie einladen, das mal für einen Moment auszuprobieren: das Antlitz Christi in Ihren Nächsten zu sehen. Schauen Sie sich einmal um, probieren Sie’s! (Musik)

Wie war das? Einfach? Vielleicht – schliesslich kennen wir uns hier ganz gut. Aber versuchen Sie mal das gleiche, wenn Sie den Fernseher einschalten und z.B. Politiker sehen, von denen Sie, milde gesagt, nicht viel halten. Oder versuchen Sie’s, sobald Sie die Kirche verlassen und auf die Strasse treten. Schaffen Sie es, das Antlitz Christi in Fremden zu erkennen, in denen, die Ihnen nicht ganz dicht vorkommen, in den Armen, denen wir hier auf Schritt und Tritt begegnen?

Christus lebt. Gott ist mitten unter uns, und zwar auf vielfache Weise: in den Worten der Heiligen Schrift, im Gebet, in den Wassern der Taufe, in Brot und Wein – und in der Gemeinschaft der Heiligen – die auch gleichzeitig Sündige sind.

Ich weiss, dass mein Erlöser lebt – Hiob spricht diese Worte, als er durch eine Wette zwischen Gott und Satan so gut wie alles verloren hat: seine Frau, seine Kinder, seinen Besitz, seine Gesundheit.

Doch trotz all dieses Unglücks, und trotz der Tatsache, dass Hiob irgendwann dann auch die Liebe und Gerechtigkeit Gottes in Frage stellt – Hiob hat hitzige Diskussionen mit Gott darüber, warum guten Menschen Schlechtes widerfährt, eine Frage, die Gott lediglich mit dem Verweis auf seine Allmacht beantwortet – so weigert sich Hiob doch starrköpfig, Gott aufzugeben oder Gott für tot zu erklären. Hiob zweifelt nicht einen Moment daran, dass Gott gegenwärtig ist.

Ich weiss, dass mein Erlöser lebt… Ich selbst werde ihn sehen, meine Augen werden ihn schauen und kein Fremder. Danach sehnt sich mein Herz in meiner Brust. 

Hiob versteht, dass Gottes Gegenwart nicht in Wohlstand oder Erfolg reflektiert sind, sondern dass Gott sich auf vielfache Weise in unserer Umwelt offenbart – und das schliesst unsere Mitmenschen mit ein. Gott lebt.

Und nicht nur das: Gott ist ein Gott der Lebendigen – und ein Gott des neuen Lebens. Und darum geht’s im heutigen Evangelium. Hier hören wir, dass einige Sadduzäer eine Diskussion mit Jesus führen. Die Saduzzäer, eine Untergruppe im Judentum, glauben nicht an ein Leben nach dem Tode. Und sie wollen Jesus mit dem hypothetischen Fall der glücklosen Frau testen, die einen Bruder nach dem anderen heiratet, nachdem einer nach dem anderen stirbt, und kinderlos bleibt. Zu welchem der 7 Brüder gehört sie, wenn es denn ein Leben nach dem Tode gibt?

Doch Jesus läβt sich nicht in solche hergeholten Hypothesen verwickeln. Ihr versteht das ganz falsch, sagt er. Das ewige Leben ist nicht einfach eine Fortsetzung des Lebens hier auf Erden. Im Leben nach dem Tod wird es eine Verwandlung geben, und irdische Dinge sind dann nebensächlich. Und warum reden wir vom Gott Abrahams, Issaks und Jakobs, wenn diese Männer tot und ein Relikt der Vergangenheit sind? Wäre dann Gott nicht ein Gott der Toten?

Nein, in Gott finden wir das ewige Leben in aller Fülle. Gott ist ein Gott der Lebendigen. Gott ist der Gott des Lebens. Gott ist der Gott neuen Lebens.

Dies schliesst das Leben nach dem Tod mit ein. Aber es schliesst auch das Leben hier und jetzt mit ein. Ein Leben in Gott, ein Leben in Christus wird nicht nur nach dem Tode verwandelt. Die Verwandlung beginnt bereits im Hier und Jetzt.

Und so landen wir wieder beim heiligen Martin, dessen Leben bereits hier auf Erden, radikal durch seine Begegnung mit dem lebendigen Christus verändert wurde.

In unserer protestantischen Tradition gedenken wir normalerweise nicht all der besonderen Heiligen, so wie es unsere römisch-katholischen und orthodoxen Brüder und Schwestern tun.  Laut Martin Luther sind wir alle Heilige, geheiligt durch Gott – und gleichzeitig sündig. Nobody is perfect.

Doch kann uns Martin, unser Mitheiliger, als Beispiel dienen, als Vorbild. Ein Vorbild dafür, was es bedeutet, verwandelt zu werden und ein neues Leben in Christus zu finden – und auch dementsprechend zu leben, so dass alles Leben geachtet wird. Martin kann uns etwas darüber lehren, wie wichtig es ist, Christus in unseren Nächsten zu erkennen und die Heiligkeit eines jeden zu achten.

Und das gilt auch, wenn wir in den Spiegel schauen. Christus ist auch in uns. Wir sind ein Teil des lebendigen, atmenden und vergebenden Leibs Christi – wir empfangen neues Leben und sind gleichzeitig dazu berufen, dieses auch in aller Fülle weiterzugeben.

Stellen Sie sich einmal eine Welt vor, in der es uns allen möglich wäre, so wie Martin zu leben und zu handeln. Das wäre eine Welt, in der es keine Zweifel gibt, das Gott gegenwärtig ist, und dass Gott ein Gott der Lebendigen ist, ein Gott, der allen ein ewiges Leben in aller Fülle schenkt. Das wäre eine Welt, in der jeder zuversichtlich sagen könnte: ich weiss, dass mein Erlöser lebt.